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Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Es war einmal eine epische Geschichte und eine andere Geschichte wurde geschrieben, um dieser vorraus zu gehen. Es war die Geschichte eines Hobbits und es wurde täglich an ihr gearbeitet. Doch dann kam das Wahre Leben und nahm viel Zeit vom Schreiber und ihrer Korrekturleserin. Geschichte wurde Legende. Legende wurde Mythos. Und eineinhalb Jahre lang, wusste niemand mehr um die Geschichte. Doch dann geschah etwas, womit niemand mehr gerechnet hatte. Das neue Kapitel ist endlich da.

Ein herzliches Dankeschön, an alle, die so lange Geduld mit mir hatten. Ich bemühe mich, es micht mehr zu einer solch langen Verzögerung kommen zu lassen, allerdings kann ich nichts versprechen, außer, dass ich trotz mangelnder Zeit und noch mehr mangelnder Zeit nicht zu schreiben aufhören werde.

Zusätzlich gibt es einen neuen Eintrag in den Anmerkungen bezüglich Ortsnamen. Die neue, streng limitierte Ausgabe der alten Carroux Übersetzung des Herrn der Ringe wurde nämlich vor ihrer Veröffentlichung auf Fehler untersucht und manche Änderungen wurden vorgenommen. Leider blieben auch Ortsnamen davon nicht verschont. Diese Änderungen werden jedoch keinen Einfluss auf Schickalsjahre eines Hobbits haben und alle Namen bleiben, was sie in den letzten 50 Jahre waren. Für weitere Informationen, verweise ich auf die Anmerkungen.


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Kapitel 74: Kein Kind mehr



Mit einem angeekelten Laut wich Nelke aus dem eingestürzten Unterschlupf zurück.
„Das ist abscheulich!“ klagte sie und rieb vergebens ihre Hände aneinander. „Es ist feucht, es ist verrottet und ich wurde angeschleimt.“
„Angeschleimt?“ Frodo spähte zwischen einigen abgebrochenen Zweigen hindurch und zog eine Augenbraue hoch. „Es sind Schnecken. Was hast du erwartet?“
Mit diesen Worten griff er nach einer Nacktschnecke, die es sich unter dem Dach der einst so behaglichen kleinen Höhle gemütlich gemacht hatte, streckte den Kopf durch das Loch zwischen eingebrochenen Ästen und schmiss das Tier in einen Strauch.
Nelke verzog das Gesicht, schüttelte ihre Finger, was jedoch noch weniger Wirkung zeigte, als das vorangegangene Reiben selbiger, und ließ ihren Blick schließlich auf der Ruine ruhen, in der Frodo so emsig beschäftigt war. Ein sanfter Windhauch kam auf, wehte das Stroh vom bereits kaum mehr vorhandenen Dach der kleinen Höhle. Frodos Krauskopf tauchte kurz zwischen den Blättern auf und eine weitere Schnecke flog zum nächstgelegenen Ligusterstrauch, wo sie ein neues Dasein aufbauen konnte, sollte sie ihre Reise dorthin überlebt haben. Nelke schüttelte sich.
„Sag nicht, du hast mich hierher bestellt, damit ich dir helfe, dieses erbärmliche Ding wieder aufzubauen.“
„Ich hatte geglaubt, etwas Gesellschaft könne nicht schaden“, erklärte Frodo, wobei er sich nicht anmerken ließ, wie sehr ihn Nelkes geringe Meinung beleidigte.
Seit sie vor zwei Jahren das Grundgerüst der Höhle gemeinsam mit Pippin aufgebaut hatten, hatten Frodo und Merry ihren Unterschlupf um einiges beständiger gemacht. Mit Hammer und Nägeln waren sie den Ästen zu Leibe gerückt, hatten hohe Holpflöcke in den Boden gerammt und eine alte Holzplatte, die sie in den Kellern des Brandyschlosses gefunden hatten, zurecht gesägt, um die Wände widerstandsfähiger zu machen. Einzig das Dach, bestehend aus Zweigen, Stroh und großen Blättern, war dasselbe geblieben. Der Sommersturm, der am letzten der Lithefeiertage angebrochen war und für beinahe zwei Tage getobt hatte, hatte jedoch keine Rücksicht auf die Arbeit genommen, die er und sein Vetter in ihren Unterschlupf gesteckt hatten. Jener Teil des Daches, der nicht weggeweht worden war, war eingebrochen und ein vom Baum gebrochener Ast versperrte den Eingang. Frodo war es trotz mehreren Versuchen noch immer nicht gelungen, ihn fortzubewegen und so hatte er sich erst daran gemacht, das einstige Dach aus der Unterkunft zu sammeln und jegliches Getier, das sich inzwischen dort eingefunden hatte, wieder daraus zu entfernen.
Anfangs war Frodo verärgert gewesen, über die Arbeit, die ihm nun bevorstand, doch je länger er sich in seiner Höhle aufhielt, umso mehr erkannte er, welch großes Glück er gehabt hatte. Hätte der Wind den Ast nur ein wenig weiter nach links getrieben, wäre auch die Wand zerstört worden.

„Gesellschaft oder Hilfe?“, begehrte Nelke zu wissen, wobei ihre Finger über die am Pfosten eingeritzten Namen von Frodo, Merry und Pippin strichen. Sie erschrak beinahe, als Frodos verschmitztes Gesicht vor dem ihren auftauchte.
„Beides“, verkündete der Junge frohgemut, ehe er erneut in den Trümmern verschwand.
Nelke lächelte. „Wird mein Name dann auch hier stehen?“
„Nein.“
Die Antwort kam so plötzlich und überzeugt, dass sie verdutzt inne hielt und ihre Hand fast schuldbewusst vom Balken zurückzog. Nach kurzem Zögern wagte sie es, den Kopf erneut in die Höhle zu stecken.
„Du müsstest dich mit der Ehre zufrieden geben, die vierte Person zu sein, die von dieser Höhle weiß.“
Verwirrt legte Nelke die Stirn kraus. „Das tue ich bereits.“
Vorsichtig kroch sie tiefer hinein, immer darauf bedacht, weder Hände noch Knie auf eine Nacktschnecke zu legen.
„Nein.“ Frodos ganze Aufmerksamkeit war auf eine der hinteren Ecken beschränkt. Er rührte sich nicht und Nelke fragte sich, was es dort Interessantes anzustarren gab. „Du weißt nicht was es heißt, so etwas aufzubauen.“
Er wandte sich um und kroch auf sie zu, die Hände vor seiner Brust verschwörerisch zu einer Kugel geformt. Ein schelmisches Lächeln erhellte seine Züge und sie konnte den Übermut in seinen Augen sehen. Unwillkürlich wich sie zurück, den Blick unsicher auf Frodo gerichtet. Plötzlich streckte dieser seine linke Hand aus und schenkte so einer riesigen Spinne ihre Freiheit zurück. Das Tier ließ sich diese Möglichkeit nicht entgehen, bewegte sich flink an die Spitze von Frodos Finger, wo sie sich mit einem Faden herab ließ, um auf Nelkes Bluse zu landen.
Mit einem gellenden Schrei, der selbst die Vögel in den Bäumen aufschreckte, stürzte das Mädchen aus dem Unterschlupf. Verschreckt schlug sie auf ihre Bluse, schrie kurz auf, obschon die Spinne längst verschwunden war und sprang aufgeregt von einem Bein auf das andere.
Frodo brach in schallendes Gelächter aus. Nelke mochte seine Freundin sein, doch sie war und blieb ein Mädchen. Somit fürchtete sie alles, was mehr als vier Beine, oder, wie im Falle der Schnecken, gar keine besaß. Er kicherte. Sie war seine Freundin, doch auch Freunde durften geärgert werden. Außerdem wäre es eine Schande, eine solche Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen.

„Du Dummkopf von einem Hobbit!“
Ihr Schrecken verflog rasch, machte Verärgerung Platz. Keuchend stapfte Nelke auf ihn zu, stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. Frodo kannte diesen Ausdruck, hatte ihn nur allzu oft in Marrocs Augen gesehen, doch fürchtete er ihn bei Nelke nicht. Mit einer Unschuldsmiene und einem kaum unterdrückten Kichern sah er zu ihr auf, packte ihre Hände, als sie nach ihm schlagen wollte. Nelke entwand sich seinem Griff jedoch und verlautete, dass er seine Höhle alleine bauen solle, ehe sie beleidigt davon ging, um sich zwischen den Margeriten, deren weißgelbe Blüten die Lichtung bedeckten, niederzulassen.
Frodo sah ihr etwas wehmütig hinterher, schüttelte dann jedoch den Kopf. Mädchen waren viel zu rasch beleidigt und Nelke war leider keine Ausnahme. Mit Merry wäre alles viel einfacher, doch er musste mit Nelke vorlieb nehmen, denn sein Vetter war in Tukland.
Esmeralda hatte vorgehabt, nach den Lithe-Tagen zu den Smials zu reisen. Ihn und Merry hatte sie mit sich nehmen wollen, doch Frodo hatte sich während der Feiertage eine leichte Erkältung zugezogen und die Herrin hatte es für besser gehalten, ihn zu Hause zu lassen. Glücklich war Frodo darüber nicht gewesen, denn er vermisste Peregrin, den er schon über ein Jahr nicht mehr gesehen hatte. Als Hanna ihm bereits drei Tage später erklärte, dass er wieder völlig gesund war, hatte ihn das noch mehr verärgert. Saradoc versicherte ihm jedoch, dass Pippin noch in diesem Jahr nach Bockland kommen würde und das ließ Frodo sein Schicksal zumindest ein wenig friedvoller annehmen.

Mit einem letzten Blick auf Nelke machte er sich wieder an die Arbeit. Der Nachmittag zog rasch dahin, während er einen Großteil des einstigen Daches am Rand der Lichtung auf einen Haufen legte, neue Äste heranschaffte und diese zum Teil an die Pfosten nagelte, in der Hoffnung, das Dach würde so dem nächsten Sturm standhalten. Mit einem letzten Kraftakt gelang es ihm schließlich auch, den Ast, der den Eingang versperrte, wegzuschaffen, sodass erneut vier sitzenden Hobbits Platz in der Höhle geboten wurde. Zufrieden betrachtete Frodo sein Werk. Die Sonne schien durch das dichte Blätterdach und ließ kleine, glitzernde Lichtpunkte über den Unterschlupf tanzen. Er hatte es geschafft. Sein kleines Reich war wieder aufgebaut und sah nun sogar besser aus als zuvor. Lächelnd wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
„Warum tust du das?“ Verwundert wandte er sich um und erkannte, dass Nelke, die den ganzen Nachmittag kaum ein Wort mit ihm gewechselt hatte, an seine Seite getreten war. In den Händen hielt sie einen großen, dichten Kranz geflochtener Margeriten. Einige Haarsträhnen hatten sich aus ihrer Spange gelöst, hingen ihr ins Gesicht. Ein seltsamer Ausdruck, den Frodo nicht zu deuten wusste, lag in ihren grünbraunen Augen, die den Blick nicht von der Höhle nahmen.
„Weshalb tust du dir all diese Arbeit an, wo die Hütte doch beim nächsten Sturm vermutlich erneut einstürzen wird?“
Frodo sah sie enttäuscht an. Er hatte geglaubt, Nelke würde am Wiederaufbau der Höhle ebenso viel Freude empfinden, wie er und Merry es in den vergangenen Jahren unzählige Male getan hatten. Insgeheim hatte er sogar gehofft, sie mit seinem Schaffen zu beeindrucken. Doch wie es schien, verstand sie von solchen Dingen nichts. Sie war eben doch nur ein Mädchen. Er zuckte mit den Schultern.
„Die Höhle hat schon vielen Stürmen getrotzt“, erklärte er nicht ohne Stolz. „Außerdem habe ich sie mit meinen Vettern gebaut. Das macht sie zu etwas Besonderem. Es ist unsere Zuflucht vor dem Rest der Welt.“
Ohne zu fragen nahm er den Blumenkranz an sich und legte ihn auf das Dach. Ein Lächeln huschte über seine Züge, doch Nelke sagte nichts und ihr Ausdruck blieb unverändert.
„Wolltest du nie von Zuhause weg?“
Frodo wusste nicht, weshalb er sie das fragte. Er verspürte den Wunsch ihr zu erklären, weshalb diese Höhle ihm so wichtig und die viele Arbeit wert war, und diese Frage schien dem Grund am nächsten. Die Höhle war sein Heim, denn er hatte sie gebaut und niemand konnte ihm darin zu nahe treten, denn niemand, außer seiner liebsten Freunde, wusste von ihrem Vorhandensein. Keiner konnte ihm unter jenem Dach aus Blättern und Zweigen wehtun oder ihn zwingen, über Dinge zu sprechen, über die zu schweigen besser war. Hier fand er Ruhe und Distanz. Hier konnte er zufrieden sein.
Nelke schüttelte den Kopf und ihr Blick, der nun auf ihm ruhte, wirkte beinahe bekümmert. Frodo wollte sie fragen, was sie bedrückte, doch sie wandte sich von ihm ab, um sich mitten in die Margeriten zu legen. Verunsichert sah er dem Mädchen hinterher, folgte ihr dann und tat es ihr gleich.

Ein sanfter Windhauch brachte die zarten Blüten zum Schwingen. Die Tannen rauschten leise und ein friedliches Rascheln ging durch das hohe Blätterdach. Vögel zwitscherten, während einige dunkle Wolken über den Himmel zogen und ihre Schatten in die Lichtung warfen.
„Etwas hat sich verändert.“ Es war Nelke, die die aufgekommene Stille brach. „Ich kenne dich schon mein ganzes Leben und du warst immer schon verschlossener als andere, doch du warst auch lebensfroh und für jeden Unsinn zu haben.“ Sie lachte und ihr betrübter Ausdruck hellte sich auf, als sie in Erinnerung schwelgte. „Es gab Zeiten, da hätte ich dir am liebsten den Hals umgedreht, so sehr hast du mich geärgert. Und doch habe ich dich gemocht. Du hast etwas an dir, Frodo, etwas Besonderes, und das ist es, was ich an dir mag.“
Frodo hatte die Hände hinter den Kopf gelegt, doch nun richtete er sich auf, stützte sich auf seinen Ellbogen. Mit in Falten gelegter Stirn sah er sie an, wusste nicht, ob ihre Worte ihn beunruhigen oder verlegen machen sollten. Er hatte lange nicht mehr mit Nelke gesprochen, denn seit Marrocs Spiel aufgeflogen war, war auch Reginard wieder gegen ihn. An manchen Abenden hatte er die stechenden Blicke des Älteren auf sich spüren können. Reginard wartete nur auf eine Gelegenheit, ihn erneut ans Messer zu liefern. Anfangs hatte Frodo es für besser gehalten, etwas Abstand zu wahren, doch seit Merry fort war, trafen Nelke und er sich beinahe täglich. Er wusste um die Gefahr, der sie sich dadurch aussetzten und fragte sich unwillkürlich, ob ihre Stimme deshalb so seltsam schwach klang. Unbehagen ergriff ihn und er schluckte schwer, ehe er zu einer zaghaften Antwort ansetzen wollte, doch Nelke kam ihm zuvor.
„Das Besondere schwindet, Frodo.“ Ihre Stimme wurde ernst und endlich nahm sie ihre Aufmerksamkeit von den Wolken. Unverhohlen traf ihn ihr Blick, ließ ihn scharf die Luft einziehen. Der braune Schimmer, der sonst unter dem Grün ihrer Augen verborgen lag, ließ deren Schein dunkler wirken, gab ihnen eine schier endlose Tiefe. Frodo blickte in jene Abgründe und die hilflose Angst, die er in ihnen sah, ließ sein Herz schneller schlagen. Er setzte sich auf, wäre zurückgewichen, hätte Nelke seinen Blick nicht festgehalten. Plötzlich fürchtete er sie, fürchtete, was sie mit ihren Worten bezwecken und mit ihren Augen sehen konnte. Sie hatte schon einmal mehr gesehen als die anderen, doch war dies zu einer Zeit gewesen, in der es ihm schlecht gegangen war. Jetzt ging es ihm gut. Es gab nichts zu bemerken, zu besprechen. Er verkrampfte sich, als sie ihre Hand auf die Seine legte und sich ebenfalls aufrichtete.
„Das Leuchten erlischt. Beizeiten bist du so lebensfroh wie eh und je, doch immer öfter ziehst du dich zurück. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, der Teil, der dich ausmacht ist vor acht Jahren mit deinen Eltern gestorben und schafft es nun nicht mehr, ins Leben zurückzukehren.“
Frodo stockte der Atem.
„Warum?“, wollte er fragen, doch seine Kehle schien wie zugeschnürt. Er entzog ihr seine Hand und wandte den Blick ab.
„Das ist er auch.“ Die Stimme war kaum mehr, als ein Wispern. „Ein Teil von mir ist mit ihnen gestorben.“
Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag war Frodo von seinen eigenen Worten überrascht. Er hatte ihr das nicht sagen wollen, selbst wenn er wusste, dass es die Wahrheit war. In den Augen seines Großvaters hatte er oft genug dieselbe Leere gesehen, die er empfand. Sie beide kannten den Schmerz eines solchen Verlustes, doch hatte Frodo gehofft, dies besser verbergen zu können. Häufig hatte er sich gefragt, ob sich seine Trauer ebenso in seinen Augen widerspiegelte und wie schon einmal war es Nelke, die ihm zeigte, dass dem so war. Sie sprach von einem Leuchten. War es das gewesen, das seiner Großmutter gezeigt hatte, dass er unglücklich war? Frodo erzitterte bei der Erinnerung. Mirabellas Worte hatten ihn damals Dinge aussprechen lassen, die besser für immer verborgen geblieben wären. Nelke sollte nicht dasselbe erreichen.
Frodo keuchte, während er gegen den Drang ankämpfte, wegzulaufen. In solchen Momenten rannte er immer fort, denn er fürchtete was geschehen würde, sollte er lange genug bleiben, um seine Geschichte zu erzählen. Mirabella hatte geweint. In den letzten Augenblicken ihres Lebens hatte sie seinetwegen geweint und nun sollte es nicht Nelke sein, die Tränen vergoss.
Er würde schweigen, schweigen.
Doch der Ausdruck ihrer Augen ließ es nicht zu und als Frodo sich noch einmal zu Nelke umwandte, berührte sie wieder seine Hand und er schien in ihrem Blick gefangen. Sein Herzschlag pochte in seinen Ohren und kleine Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn.
„Du verstehst das nicht!“ wollte er ablenken, doch mit einem Mal machte ihr Blick ihn wütend. Er hatte sich vor ihr nicht zu rechtfertigen. Sie hatte nicht das Recht ihn zu verunsichern, nur weil sie glaubte, Dinge zu sehen von denen sie nichts wusste. Seine Miene verfinsterte sich.
„Du hast nie verloren, was dir am Liebsten war“, ließ er sie grimmig wissen. „Du hast nie geglaubt, Trost in einem anderen zu finden, der dir dann wieder genommen wurde. Du bist niemals allein gewesen. Deine Hoffnungen, ein neues Zuhause gefunden zu haben, wurden nicht ebenso zerschlagen, wie die Sehnsucht nach deinen Eltern, die niemals erfüllt werden kann. Du weißt nicht einmal, was Sehnsucht ist!“

Nelke traten bei seinen Worten die Tränen in die Augen. Verurteilte er sie nun dafür, dass sie sich um ihn sorgte? Wollte er sie strafen, weil sie nicht durchgemacht hatte, was er erlitt? Missverstanden wandte sie sich von ihm ab und presste die zur Faust geballte Hand gegen ihre Lippen, um sich davon abzuhalten, den Schmerz, den sie seinetwegen empfand, wieder an ihn zurückzugeben.

Auch Frodo hatte sich von ihr weggedreht, als er das Glitzern in ihren Augen erkannt hatte. Wieder war ihm gelungen, was er hatte vermeiden wollen. Zwar hatte er nicht geredet, wie er es bei seiner Großmutter getan hatte, doch anstatt zu schweigen, wie er es sonst tat, hatte er seinen Kummer genommen, um damit Nelke dafür zu verletzen, dass sie ihm nahe gekommen war.
„Es mag sein, dass ich diese Gefühle nicht kenne, doch dein Zuhause ist hier, im Brandyschloss.“
Frodo sah nicht zu ihr hinüber. Unbewusst waren seine Finger dazu übergegangen, einzelne Grashalme auszurupfen. „Nein, das ist es nicht.“
„Wo dann?“
Er konnte die Tränen in ihrer Stimme hören und wusste, dass sie ihn ansah.
„Das kann ich dir nicht sagen“, entgegnete er rasch und hoffte inständig, sie würde nicht weiterfragen, denn er wusste, er würde noch einmal zur selben Waffe greifen, um die Distanz zwischen ihnen zu erweitern.
„Kannst du oder willst du nicht?“ Nun lag die Anschuldigung in ihrer Stimme. Ihre Worte waren kühl und berechnend. „Vertraust du mir etwa nicht?“
Frodo verkrampfte sich, seine Finger schlossen sich um ein ganzes Bündel Halme, die er mit einer ruckartigen Bewegung abriss. Ebenso plötzlich wandte er sich Nelke zu und ein Funke der Verärgerung lag in seinen Augen. „Ich vertraue dir! Ich erzähle dir mehr, als gut für mich ist!“ Gekränkt schüttelte er den Kopf und stand auf. „Vielleicht sollte ich auch damit aufhören. Du wirst mich ja doch nie verstehen.“
„Frodo, ich…“, wollte Nelke ihn beschwichtigen, während sie ebenfalls auf die Beine sprang, doch Frodo brachte sie mit einer abwehrenden Handbewegung zum Schweigen.
„Du solltest jetzt gehen“, verlangte er, ohne sie anzusehen.
„Aber…“
Geh!“
Die Schärfe seiner Stimme ließ keine Widerworte zu. Nelke zögerte dennoch einige Augenblicke, in denen sie ihn bekümmert betrachtete. Wenn Frodo ihren Blick bemerkte, ließ er sich das nicht anmerken. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, stand reglos, während der Wind mit seinen Haaren spielte, und blickte stur in die andere Richtung. Tränen brannten in ihren Augen. Sie hatte gehofft, Frodo würde ihr ihre Sorgen nehmen, doch war sie stattdessen auf eine Gefühlskälte gestoßen, die sie nicht bei ihm kannte.
Zaghaft trat sie einige Schritte zurück, hoffte insgeheim, er möge sie aufhalten und seine Worte zurücknehmen, doch Frodo rührte sich nicht. Betrübt ließ sie den Kopf hängen und verschwand schließlich im Wald, wo sie zu laufen begann, während stumme Tränen über ihre Wangen liefen.



~*~*~



Mit raschem Schritt und einem unbehaglichen Gefühl in der Magengegend eilte Frodo durch den Wald. Ein gewaltiger Blitz erhellte sekundenlang den abendlichen Himmel, während ein ohrenbetäubender Knall und zorniges Donnergrollen die Wolken erzittern ließ. Frodo schreckte zusammen. Das Gewitter war genau über ihm. Er hatte nicht gemerkt, wie rasch sich der Himmel zuzog, während er in der Höhle gesessen und nachgedacht hatte.
Zu einem Ergebnis war er dennoch nicht gekommen. Einerseits war er enttäuscht von Nelke, weil sie nicht bemerkt hatte, wie viel er ihr im vergangenen Jahr anvertraut hatte. Wie konnte sie an seinem Vertrauen zweifeln, nur weil er ihr auf eine Frage nicht antworten wollte? Er hatte geglaubt, sie würde ihn inzwischen besser kennen, doch offensichtlich hatte er sich geirrt.
Dennoch verunsicherte ihn ihr Verhalten. Er ahnte, dass Nelke bemerkte, was seine Großmutter gesehen haben musste, was er Tag für Tag bei seinem Großvater zu erkennen glaubte. Nach all den Jahren wanderte er noch immer unter dem Schatten seines Verlustes. Manchmal mochte er darüber vergessen, doch wehe dem, der ihn daran erinnerte, so wie Nelke es getan hatte.
Seit sie dem Kleinkindalter entwachsen waren, hatte Frodo sie noch nie weinen gesehen, und es bekümmerte ihn, Grund für ihre Tränen zu sein.
Wieder zuckte ein Blitz am Himmel und Frodo beschleunigte seinen Schritt noch, kletterte hier über eine Wurzel und schob dort einige Äste zur Seite, um gebückt darunter durchzugehen. Zwar regnete es nicht, doch eine unheimliche Finsternis hatte sich über den Wald gelegt und er war froh, als er schließlich die Wiese erreichte, die den nördlichen Rand säumte. Ohne das schützende Dach der Bäume konnte Frodo den bitteren Geruch eines nahenden Sommergewitters deutlich wahrnehmen. Sorgenvoll blickte er zum Himmel, wo sich dunkle Wolken zu einer schwarzen Masse zusammengefunden hatten, in deren Innerem blaue Blitze aufleuchteten. Er würde sich beeilen müssen, wenn er vor dem Regen zu Hause sein wollte. Frodo setzte sich in Bewegung, als plötzlich etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Hinter einer kleinen Anhöhe bei Bockenburg stieg grauer Rauch zum Himmel und ehe Frodo sich versah, rannte er darauf zu. Für ihn stand außer Frage, dass es sich hierbei um ein Feuer handeln musste und er wollte unbedingt dabei sein, wenn es gelöscht wurde, und seinen Teil dazu beitragen.

Wieder erhellte ein Blitz den Abend und als Frodo schließlich die Straße erreichte, konnte er die Flammen erkennen, die aus den Fenstern eines Stalles schlugen. Es war erschreckend zu sehen, wie machtlos die Bewohner Bockenburgs gegen das Feuer schienen. Viele rannten mit Eimern heran, doch trotz des Wassers schlugen die Flammen immer höher. Züngelnd ragten sie in die dunklen Wolken empor, während dichter Qualm nach oben stieg.
Einen Augenblick blieb Frodo stehen, beobachtete das Schauspiel mit geweiteten Augen und offenem Mund. Männer pumpten unentwegt Wasser aus den Pumpbrunnen, während andere mit Eimern hin und her liefen. Frauen mit kleinen Kindern standen vor ihren Höhlen, blickten finster in die Flammen, als können sie sie dadurch davon abhalten, auch ihr Zuhause anzugreifen. Die Luft flimmerte unter der unerträglichen Hitze, während sich immer mehr Hobbits mit Eimern um den Stall einfanden und die Wege zu zusätzlichen Pumpbrunnen immer länger wurden.
„Haltet euch von den Fenstern fern!“ brüllte ein Bauer und nur Momente später barst auch die letzte Glasscheibe unter der Kraft des Feuers. Eine Magd, die beherzt gegen die Flammen angetreten war, schrie auf, als die Scherben ihre Wangen zerschnitten. Schützend legte sie die Hände vor ihr Gesicht, achtete nicht weiter auf das mühsam herangetragen Wasser, das mit dem Eimer ungenutzt zu Boden fiel.
„Schafft sie fort!“ rief ein anderer und nur Augenblicke später eilte eine weitere Magd heran, die das verstörte Mädchen mit vorsichtigen Schritten vom Stall wegführte.

Frodo löste sich aus seiner Erstarrung, bereit das seine zu tun, um dem Feuer Einhalt zu gebieten. Eilig sprang er den Hügel hinab und mit jedem Schritt den er tat, wurde die Luft stickiger und es fiel ihm schwer zu atmen. Der Qualm brannte sich seinen Hals hinab und in seine Lungen, bis er hustete. Es war die Luft selbst, die zu brennen schien.
„Frodo, was machst du hier?“ Frodo war überrascht, Saradoc unter den helfenden Hobbits zu erkennen. Der Herr von Bockland eilte auf ihn zu. Seine hellbraunen Locken klebten an seiner schweißnassen Stirn, schimmerten rot im Licht der bedrohlichen Flammen. „Geh nach Hause!“
„Ich kann helfen!“ schrie Frodo über den Lärm der Löscharbeiten. Der Stall mochte nicht mehr zu retten sein, doch es galt die umliegenden Höhlen und Häuser vor dem Feuer zu schützen.
Saradoc schüttelte den Kopf und blinzelte einen Schweißtropfen aus seinem Auge. „Dies ist kein Ort für Kinder. Geh!“
„Herr Saradoc!“
Ein Hobbit, der unweit der Brunnen stand und den Herrn zu sich winkte, verwehrte Frodo seine Antwort. Er konnte nicht erkennen, wer es war, denn der Qualm brannte in seinen Augen, hatte sie zum Tränen gebracht. Mit einer letzten strengen Aufforderung, diesen Ort zu verlassen, rannte Saradoc zu dem Fremden.

Donner grollte und Blitze leuchteten mit den Flammen um die Wette, doch der rettende Regen wollte nicht einsetzen. Frodo öffnete den obersten Knopf seines Hemdes, teils um besser atmen zu können, teils in der Hoffnung, so der brütenden Hitze zu entfliehen. Trotzköpfig blieb er an der Stelle stehen, an der Saradoc ihn verlassen hatte und sah missmutig, wie sich die Bewohner Bockenburgs abmühten. Saradoc behandelte ihn wie ein Kleinkind, und das, obwohl er bereits in zwei Monaten in seinen Tweens und somit dem Erwachsensein einen ganzen Schritt näher war. Selbst jetzt, da Merry nicht zu Hause war, musste er zur selben frühen Zeit zu Bett, wie es für seinen drei Jahre jüngeren Vetter üblich war. Doch er war kein Kind mehr und würde Saradoc dies auch beweisen.
„Vorsicht, Junge! Geh weg hier!“
Ein ältlicher Hobbit rempelte Frodo an, brachte das Wasser in seinem Eimer zum überschwappen und fluchte leise, als das kostbare Nass seine Hose anstelle der brennenden Hütte tränkte.
Frodo stolperte zur Seite, blickte dem Hobbit griesgrämig hinterher, als sein Blick plötzlich auf den Eimer fiel, den die Magd bei ihrem Unfall hatte liegen lassen. Noch hatte niemand die Zeit gefunden, ihn aufzuheben. Ein arglistiges Lächeln stahl sich über Frodos Züge. Damit würde er Saradoc beweisen können, wie erwachsen er schon war. Unwillkürlich sah er sich nach dem Herrn um, entdeckte ihn, wie er sich einen Eimer mit Wasser füllen ließ.
Frodo hatte Mühe seine Augen offen zu halten, denn der Rauch brannte so stark, dass er kaum durch den Schleier aus Tränen zu blicken vermochte. Auch seine Nase hatte bei dem beißenden Geruch, der in der Luft lag, zu laufen begonnen und seine Haut prickelte unter der Hitze der Flammen. Er hatte den Eimer noch nicht einmal erreicht, da war sein Körper schon schweißnass, ließ Hose und Hemd an der glühenden Haut kleben. Seine Lungen schmerzten und er konnte kaum mehr atmen, als er vorsichtig über die Wiese ging, hoffend, keiner Scherbe zum Opfer zu fallen.
Es war eine kräftezehrende Aufgabe, doch er war fest entschlossen zu helfen, damit Saradoc aufhörte in ihm ein Kind zu sehen, das er längst nicht mehr war. Mit einem zufriedenen Lächeln nahm Frodo den Eimer an sich, sah sich sogleich nach dem nächstgelegenen Brunnen um, doch konnte er kaum etwas erkennen. Verzweifelt presste er die Augen zusammen, um sich Linderung zu verschaffen, auch wenn der gewünschte Erfolg ausblieb.

Frodo!“
Saradocs entsetzter, angsterfüllter Schrei übertönte das wütende Zischen der Flammen und das zornige Grollen der Donner. Der Eimer in seinen Händen fiel nutzlos zu Boden. Mit einem Satz spurtete er über die Wiese, stieß andere zur Seite, um den ahnungslosen Jungen rechtzeitig zu erreichen.
Das Dach hatte längst Feuer gefangen und während Saradocs hilfloser Blick über den Stall gewandert war, hatte er erkannt, dass einer der Balken bereits im Begriff war zu brechen. Der Warnschrei, den er ausstoßen wollte, blieb in seiner Kehle stecken, als er fassungslos feststellen musste, dass es sein Ziehsohn war, der sich so unbedacht unter das Dach gestellt hatte.
Ein Raunen ging durch den Stall, ein Knarren und der Balken brach. Brennend fiel er zur Erde, als Saradoc mit einem beherzten Sprung nach den Schultern seines Schützlings griff und ihn mit sich zu Boden riss. Er kniff die Augen zusammen, um nicht von Funken verletzt zu werden, während er Frodo mit seinem Körper zu schützen versuchte. Scherben schnitten in seinen Handrücken und eine bohrte sich tief in seinen rechten Oberarm.

Instinktiv schloss Frodo die Augen, als er gepackt wurde. Er wollte protestieren, doch sein gereizter Hals war nur zu einem Husten fähig. Er duckte sich, als sich Arme schützend um seinen Kopf legten. Den Eimer ließ er fallen, um seinen Sturz abzufangen, doch dazu bot sich ihm keine Möglichkeit. Er schlug auf dem Boden auf, sanfter, als er es erwartet hatte. Arme legten sich fester um ihn und Frodo blieb, in einem Moment angespannter Stille, reglos liegen, wagte nicht einmal mehr zu atmen. Holzsplitter streiften seine Wange. Nur zaghaft öffnete er die Augen, als sich der Körper, der sich so schützend um ihn gelegt hatte, regte. Beinahe erschrocken wich er zurück, als er Saradoc erkannte.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte der Herr besorgt und Frodo nickte zögernd.
Er spähte über die Schulter des Schlossherrn, dorthin, wo er eben erst gestanden war und sah den brennenden Balken im Gras liegen. Seine Augen weiteten sich, als Saradoc ihn plötzlich auf die Beine zog und nicht sonderlich sanft am Oberarm packte. Frodo wollte protestieren, doch der Ausdruck in Saradocs Gesicht gebot ihm, zumindest für den Augenblick, ruhig zu sein.
Der Herr sprach kein Wort, bis sie auf der Anhöhe standen, von wo aus Frodo das Geschehen beobachtet hatte. Inzwischen hatte die Luft auch hier einen stechenden Geschmack, war aber nicht so schwer, wie nahe des Stalls.
„Du wartest hier und ich schwöre dir, wenn du dich auch nur einen Schritt zur Seite bewegst, wirst du eine Strafe erhalten, die deine schlimmsten Vorstellungen übersteigt.“
Frodo wagte nicht, diesem zornigen Tonfall zu widersprechen, ein Tonfall, den er bisher erst einmal bei Saradoc gehört hatte, vor zwei Monaten, als er die Wahrheit aus Marroc herausgepresst hatte. Reuig senkte er den Kopf.
Saradoc nickte zufrieden, kehrte dann um, um seine Hilfe weiterhin zur Verfügung zu stellen, als sich die Wolken mit einem weiteren Donnerschlag öffneten und der ersehnte Regen in einem wahren Wolkenbruch zur Erde prasselte. Auf der Wiese um den brennenden Stall brach erleichtertes Jubelgeschrei aus und die Löscharbeiten wurden eingestellt. Dem Regen würde gelingen, wozu die vereinten Kräfte der Hobbits nicht ausgereicht hatten.
Saradoc hielt in seiner Bewegung inne, blickte erleichtert auf den brennenden Hof, ehe er das Gesicht lächelnd dem Himmel zuwandte und sich vom Regen einen Teil des Schmutzes abwaschen ließ. Als er sich Frodo zuwandte, war sein Ausdruck jedoch wieder ernst und mit einem grimmigen „Nach Hause!“ ergriff er von neuem Frodos Oberarm und führte ihn mit sich fort.



~*~*~



Der Herr sprach kein Wort, während sie nach Hause gingen und auch Frodo blieb stumm. Er war wütend auf sich selbst, weil ihm nicht gelungen war, Saradoc zu zeigen, dass er kein Kind mehr war. Stattdessen hatte er bewiesen, wie sehr er den Herrn und dessen Schutz brauchte. Es war ihm nicht einmal gelungen, einem herunterfallenden Balken auszuweichen. Er hatte den Balken nicht einmal bemerkt! Das Blut an Saradocs rechtem Arm und seiner Hand bestätigte ihn nur in seiner Unfähigkeit. Bei allen Auen, er war bald ein Tween und konnte nicht einmal auf sich selbst aufpassen! Wie wollte er da beweisen, dass er es nicht länger nötig hatte unter Saradocs Fittichen zu stehen?

Ihr Weg führte sie ohne Umschweife und ohne auf Grüße und überraschtes Lufteinziehen anderer Bewohner einzugehen, in das Zimmer der Kinder, wo Saradoc endlich von Frodos Oberarm abließ.
„Bei allen Auen, Frodo!“ rief der Herr aufgebracht, noch ehe er die Tür geschlossen hatte. „Was hast du dir nur dabei gedacht?“
Frodo entgegnete nichts darauf, nutzte aber die Gelegenheit, um etwas Abstand zwischen sich und den Herrn zu bringen, indem er die Kerzen auf seinem Nachttisch entzündete und so etwas Licht in den dunklen Raum brachte.
„Ich bin kein Kind mehr“, gab er schließlich gelassen, doch mit einem trotzigen Unterton zu bedenken, ohne sich umzudrehen. „Ich hätte helfen können, wenn…“
„Wenn was?“, spie Saradoc förmlich. „Wenn du nicht vorher von einem herunterfallenden Balken erschlagen worden wärest?“
Frodo konnte Saradocs Schmerz deutlich in seinen Worten hören und zuckte unwillkürlich zusammen. Nelke war nicht die Einzige, der er heute wehgetan hatte. Schuldbewusst schielte er zu Saradocs blutverschmiertem Arm. Er hatte nicht gewollt, dass der Herr sich verletzte, doch wie sonst hätte er seine Reife beweisen können? Wenn er in einem Gespräch anmerken ließ, dass er nun bald in seinen Tweens war, zog der Herr für gewöhnlich nur eine Augenbraue hoch und meinte, er würde abwarten und prüfen, ob es angebracht war, die Zubettgehzeit auf eine spätere Abendstunde zu legen.
„Um ein Haar hätte dich dein Leichtsinn das Leben gekostet.“
Stirnrunzelnd wandte Frodo sich um, überrascht, über die plötzliche Traurigkeit in der Stimme des Herrn, nur um dann entsetzt die Luft einzusaugen. Saradoc war an ihn herangetreten und legte nun die Arme um ihn.
„Ich hätte dich verlieren können, Junge.“
Frodo stand reglos, wagte nicht einmal zu atmen. Saradoc hatte ihn noch nie festgehalten, wenn er nicht geweint hatte und Frodo wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Dennoch waren es Saradocs Worte, die ihn daran hinderten, sich aus der Umarmung zu winden. Würde es ihn denn bekümmern, wenn er nicht länger hier wäre? Saradoc hatte ihn gerettet, doch hatte Pflichtgefühl ihn so handeln lassen, oder war es Liebe gewesen?
Je länger die Umarmung andauerte, umso mehr wollte Frodo an Letzteres glauben, war schon versucht, die Berührung zu erwidern, als Saradoc überraschend einen Schritt zurückging, die Hände auf seine Schultern legte und vor ihm in die Knie ging. Frodo stockte, suchte in den Augen des Herrn nach einer Erklärung, doch konnte er deren Ausdruck unmöglich erkennen, denn die giftige Luft des Brandes hatte sie blutunterlaufen und geschwollen werden lassen.

Stille breitete ihren Mantel um sie aus. Beide sahen sich in die Augen, während die Kerzen ihre flackernden Lichter über ihre Gesichter tanzen ließen. Frodo wusste auf Saradocs Worte nichts zu erwidern, doch verspürte er im Augenblick auch nicht den Drang, das Schweigen zu brechen. Es war nicht die bedrückende, spannungsgeladene Stille, die für gewöhnlich zwischen ihnen lag und doch wusste er, dass eine ernste Unterhaltung folgen würde, denn Saradoc hatte sich gewiss nicht grundlos auf seine Höhe herabgelassen.
„Du bist ein Kind, Frodo“, Saradoc enttäuschte ihn nicht, „und selbst wenn du keines wärest, tätest du gut daran, auf Ältere zu hören.“
Die Stimme war nicht die, mit der der Herr ihn für gewöhnlich auf eine Strafe vorbereitete. Die Milde mit der er sprach, ließ Frodo beinahe beschämt den Kopf senken.
„Ich habe dir Erfahrungen voraus und nicht alle waren gut. Hörst du auf mich, kann dir die eine oder andere vielleicht erspart werden.“ Saradoc macht eine kurze Pause, in der er besonnen lächelte. „Meine Kindertage liegen weit hinter mir, Frodo, doch du ahnst nicht, wie oft ich Gorbadoc um Rat frage, in der Hoffnung, er möge seine Erfahrungen mit mir teilen.“
Frodo schloss die Augen. Saradoc wollte ihn mit Belehrung anstelle von Strafe zurechtweisen, doch eine lange Rede half ihm bei seinem Problem noch weniger, als es eine Züchtigung tat. Er sprach von Erfahrungen. Frodo hatte in seinem Leben mehr als genug schlechte Erfahrungen gesammelt und keine von ihnen hätte der Herr ihm ersparen können.
„Ich wollte nicht deinen Rat“, sagte er entschlossen. „Ich will, dass du mich nicht wie einen kleinen Jungen behandelst.“
Saradoc neigte den Kopf leicht zur Seite. „Was ist so schlecht daran, ein solcher zu sein?“
Missmutig sah Frodo den Herrn an. Meinte er diese Frage wirklich ernst?
„Ich muss zu Bett, wenn du es verlangst und nicht, wenn ich müde bin“, ließ er ihn grimmig wissen. „Ich muss immer nur tun, was andere mir sagen. Ich will eigene Verantwortung.“
Saradoc wirkte überrascht. „Die hast du wann immer du die Tiere hütest, bei der Heuernte zur Hand gehst oder bei Arbeiten mithilfst.“
„Verantwortung, die du mir auferlegst.“
Er hätte wissen müssen, dass der Herr sein Anliegen nicht verstand. Saradoc war schließlich nicht derjenige, der gesagt bekam, wann er zu Hause oder im Bett zu sein hatte. Saradoc konnte selbst entscheiden, was er tun und was er lassen wollte.
„Du willst erwachsen sein und selbst Verantwortung tragen?“
Frodo nickte, überrascht, dass Saradoc sein Gesuch doch zu bedenken schien. Angespannt blickte er auf das nachdenkliche Gesicht des Herrn, wartete ungeduldig auf eine Antwort. Hatte das Feuer am Ende doch dazu beigetragen, dass er bekam, was er mit Gesprächen allein nicht erreicht hatte?
„Also gut“, nickte Saradoc und entlockte Frodo dadurch ein Lächeln. „Ich spreche mit Berylla.“
Das Lachen verschwand, um einem Ausdruck der Verwirrung Platz zu machen. Frodo runzelte die Stirn. Was hatte Tante Berylla mit seiner Verantwortung zu tun?
„Was das Essen anbelangt, so soll weiterhin sie entscheiden, doch die Verantwortung für die Sauberkeit in der Hauptküche wird in der nächsten Woche bei dir liegen. Das heißt auch, dass du den Raum erst verlassen wirst, wenn alles blitzblank ist, ganz gleich zu welcher Abendstunde.“
Frodo starrte den Herrn entgeistert an. Er hatte mit vielem gerechnet – der Erlaubnis selbst zu entscheiden, wann er zu Bett gehen wollte oder der Bestimmung über die Ordnung in seinem Zimmer, die nicht immer jener entsprach, die Esmeralda dafür vorgesehen hatte – aber nicht damit. Er sollte gleich die Verantwortung über die Mädchen in der Küche übernehmen? Er sollte dafür sorgen, dass es sauber blieb? Frodo wusste nicht, ob ihm das gefiel. Argwöhnisch betrachtete er den Herrn, nicht sicher, ob dies doch nur eine versteckte Art der Strafe war.
„Wenn du ‚ganz gleich zu welcher Abendstunde’ sagst, heißt das, dass ich auch selbst bestimmen darf, wann ich zu Bett gehe?“, erkundigte er sich vorsichtig, denn das war es, was ihm bei dieser Angelegenheit schon seit Monaten am wichtigsten war.
Saradoc nickte lächelnd. „In der nächsten Woche werde ich kein Wort über Schlafenszeiten verlieren.“
„Und danach?“
„Danach werden wir sehen.“
Frodos hoffnungsvoller, freudiger Ausdruck wurde wieder ernst. Zu oft hatte der Herr schon davon geredet, die Angelegenheit erst genauer betrachten zu müssen, ehe er entscheiden konnte, doch gehandelt hatte er bisher nicht.
Saradoc lächelte jedoch auf seinen Ausdruck hin. „Also gut. Hast du mir am Ende dieser Woche bewiesen, dass du verantwortungsbewusst handelst, wirst du eine Stunde länger in den Wohnräumen bleiben dürfen.“
Frodo nickte zufrieden, eine Geste, die ihr Gespräch zu beenden schien, denn Saradoc richtete sich wieder auf und wandte sich zum Gehen. Bevor er das Zimmer jedoch verließ, teilte er ihm mit, dass er Badewasser für zwei aufsetzen würde, denn auch Frodo sollte den Gestank des Feuers von sich abwaschen, nachdem er zu Abend gegessen hatte. Frodo lächelte verschmitzt. Dies sollte der erste Tag sein, an dem er selbst entschied, wann er sich schlafen legte, denn im Zuber vergaß nicht nur er die Zeit.



~*~*~



Saradoc seufzte erleichtert auf und schloss die Augen, während er sich tiefer in den Zuber gleiten ließ. Das warme Wasser schwappte über seine Brust und er spürte, wie die Erschöpfungen des Tages von ihm abgewaschen wurden. Eine der Zofen hatte mit wenig Mühe den Glassplitter aus seinem Oberarm entfernt und der stechende Schmerz, der ihn seit dem Unfall begleitet hatte, hatte sofort nachgelassen. Das Mädchen wollte die Wunde verbinden, doch Saradoc hatte sie weggeschickt. Nach seinem Bad würde sich zeigen, ob die Verletzung wirklich tief genug war, um einen Verband darum zu legen.
Der Duft von Bienenwachs stieg ihm in die Nase, während der Wasserdampf kleine Tröpfchen auf seinen Locken bildete. Der Badesaal, einer der größten des Brandyschlosses, war verlassen, was für die Tageszeit sehr ungewöhnlich war. Saradoc kümmerte dies jedoch wenig. So konnte er seine Gedanken wandern lassen, ohne von Gesprächen abgelenkt zu werden.
Sie hatten großes Glück gehabt, denn wäre Wind aufgekommen, hätte das Feuer auch die umliegenden Höhlen und Häuser angegriffen. Mungo Wühler, ein Vetter des Tischlermeisters, hatte zwar seinen Stall verloren, doch das Vieh war ihm geblieben. Die Tiere waren auf der Weide und bis die Tage wieder kälter wurden, würde längst ein neuer Stall für sie bereitstehen. Heustock und Vorratskammern würden ebenfalls gefüllt sein, bis der Winter anbrach, denn der Sommer war noch lang, die Haupterntezeit brach erst an, und Wiesen konnten genügend gemäht werden.
Es war alles gut gegangen, wenn auch nur knapp. Saradoc war von einem Besuch am Nordtor zurückgekehrt. Die Grenzer berichteten von einigen zwielichtigen Gestalten und er hatte sichergestellt, dass die Wächter am Tor auf der Hut waren. Er hatte den Blitz gesehen, der das morsche Holz des Stalles entzündete und war einer der Ersten gewesen, der sich einen Eimer genommen und Wasser gepumpt hatte. Als Frodo plötzlich vor ihm gestanden war, hatte er seinen Augen nicht getraut. Er schalt sich selbst, dass er nicht sofort dafür gesorgt hatte, dass der Junge den Heimweg antrat. Doch die Lage war außer Kontrolle gewesen. Er hatte auf Frodos Gehorsam vertraut und seine Neugier und den Sturkopf vergessen. Für einen Augenblick hatte er gefürchtet, ihn zu verlieren. Den Schrecken jenes kurzen Momentes, da er Frodo unter dem brechenden Balken hatte stehen sehen, würde er nie wieder vergessen. Er liebte den Jungen. Frodo mochte nicht sein Fleisch und Blut sein, war ihm bisweilen unähnlicher wie kein anderer, doch er war ein Teil von ihm. Er war der Sohn seines Herzens und er liebte ihn, wie sonst nur Merry. Sein Verlust hätte ihn so tief getroffen, wie sonst kaum ein anderer.

Das leise Klicken der Tür ließ ihn die Augen öffnen. Frodo trat ein, einen zufriedenen Ausdruck im Gesicht. Wortlos stapfte er durch die dünnen Dampfwolken, legte sein Nachthemd auf die Ablage und machte sich daran, seinen Zuber vorzubereiten. Mit geübten Handgriffen schöpfte er das heiße Wasser aus dem großen Kessel, pumpte schließlich einige Eimer mit kaltem Wasser aus dem Pumpbrunnen, ehe er zu guter Letzt die Temperatur prüfte. Mit einem Nicken erhob er sich dann, entledigte sich seiner Hosenträger, zog das Hemd aus dem Hosenbund und knöpfte es auf. Saradoc ertappte sich dabei, wie er ihn eingehend betrachtete, als er den Stoff schließlich über seine Schultern schob und die bereits sonnengebräunte Haut freilegte. Er bemerkte, dass er Frodos Rücken nach Blutergüssen und Kratzern absuchte, die der Junge nur allzu oft vor seinem Blick verbarg, eine Tatsache, die ihn gleichermaßen schmerzte und erzürnte. Heute konnte er jedoch keine Verletzungen entdecken und es erleichterte ihn ungemein, dass Frodo seine Begegnung mit dem brennenden Balken unbeschadet überstanden hatte und auch Marroc ihm kein Leid zugefügt hatte. Seit jenem anstrengenden Tag im Astron hatte sich die Lage beruhigt, und auch Frodo hatte es nach wenigen Tagen aufgegeben, ihm lediglich mit finsteren Blicken und sturem Schweigen zu begegnen, doch wagte Saradoc nicht durchzuatmen.

Er lächelte, als Frodo schließlich mit demselben erlösten Seufzen in die Wanne kletterte, mit dem er nur kurz zuvor hinein geglitten war. Der Junge schielte kurz zu ihm herüber, schloss dann die Augen, ebenso, wie Saradoc es getan hatte und der Herr von Bockland fragte sich unwillkürlich, was ihm jetzt wohl durch den Kopf ging. Einen Moment war er versucht, ebendies zu erfragen, doch er entschied sich dagegen, dachte stattdessen an die Unterhaltung, die sie eben erst geführt hatten.
Frodo hatte schon häufiger anmerken lassen, dass er jetzt alt genug war, manche Dinge selbst zu entscheiden, vor allem dann, wenn es um die Schlafenszeit ging. Im Grunde hatte er Recht, denn noch schickte er Frodo und Merry zur selben Zeit zu Bett. Würde er nicht sehen, dass Frodo den Schlaf benötigte, hätte er ihm eine zusätzliche Stunde im Wohnzimmer längst erlaubt, auch wenn er dadurch zwangsläufig einem Konflikt mit Merry begegnete, der zweifelsohne der Ansicht war, ebenso lange aufbleiben zu können. Frodo war für ihn nun einmal der ältere Bruder, den er nie hatte und Saradoc glaubte, sein Sohn würde nie aufhören, seinem Vetter nachzueifern.
Sein Blick wanderte wieder zu dem dunkelhaarigen Jungen, dessen Kopf beinahe hinter dem Zuberrand verschwunden war.
„Kein Kind mehr!“ dachte er bei sich. „Oh, wenn du wüsstest, wie jung du noch bist, Frodo, und was es für dich noch zu lernen gibt, ehe du mündig sein wirst. Selbst danach wird es nicht einfacher werden. Sei Kind, so lange du noch kannst, denn in diese Zeit wirst du nicht zurückkehren können, wenn du erst auf eigenen Beinen stehst.“

Als hätte er seine Gedanken gehört, setzte Frodo sich auf und sah fragend zu ihm herüber. Hinter all dem Wasserdampf wirkte er beinahe misstrauisch, und das nicht zu unrecht. Dieses Mal hatte er Frodo erwischt und er fragte sich, ob der Junge immer noch so erpicht darauf sein würde, Verantwortung zu tragen, wenn diese Woche erst um war. Saradoc lächelte. Wenn er es überhaupt so lange aushielt. Er gab ihm drei Tage, höchstens vier, dann würde er mit dunklen Ringen unter den Augen, schmerzenden Füßen und Blasen an den Händen in sein Arbeitszimmer stolpern und bitten, seine Verantwortung wieder abgeben zu dürfen. Die Arbeit der Frauen in der Küche war hart und Frodo würde rasch lernen, dass Verantwortung nicht nur bedeutete, selbst bestimmen zu können, sondern auch darauf zu achten, dass jeder seine Arbeit tat, einschließlich ihm selbst. Es bedeutete Konflikte zu lösen und Kompromisse einzugehen, Entscheidungen zu treffen aber auch zu wissen, wann es besser war, um Rat zu fragen. Beherrschte er das nicht, würde ihm auf der Nase herumgetanzt werden und am Ende stünde er mit seiner Arbeit alleine da.
Saradoc war überzeugt, Frodo würde diese Lektion rasch lernen. Erwachsensein war nicht leicht, ebenso wenig, wie die Schritte dorthin. Sollte Frodo diese Woche wider Erwarten durchstehen, hatte er sich eine zusätzliche Abendstunde redlich verdient und Saradoc würde sie ihm gerne gewähren.

 





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