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Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Kapitel 51: Ich will dich nicht verletzen



Für Frodo trübte ein Schleier aus Tränen das Antlitz der Welt an diesem sonnigen Frühlingsmorgen. Die Bewohner des Brandyschlosses und deren Gäste waren bereits am frühen Morgen aufgebrochen und nach Norden gegangen, wo sich nahe einem kleinen Waldstück die Gräber der verstorbenen Hobbits befanden. An der Spitze des Zuges gingen Gorbadoc, Dodinas, Saradas und Dinodas, die Mirabellas Körper, der durch ein weißes Leinentuch verdeckt war, auf einer Bahre mit sich trugen.
Frodo war an Bilbos Seite, als die Hobbits ihren traurigen Marsch antraten. Der alte Hobbit war nach dem Frühstück auf ihn zugekommen und seither nicht mehr von seiner Seite gewichen. Das beunruhigte Frodo, ebenso, wie es ihn erleichterte.

Frodos Augen blickten ins Leere, als sie schließlich alle unter einigen Pappeln standen, wo Mirabellas Grab ausgehoben worden war, und Gorbadoc Worte des Abschieds sprach. Er konnte seine Großmutter nicht vergessen, ihre Worte, und die Tränen, die über ihr blasses, müdes Gesicht geflossen waren, als er ihr sein größtes Geheimnis anvertraut hatte. Warum hatte er es getan? Warum hatte er gesprochen, wo er genauso gut hätte schweigen und ihr Kummer ersparen können? Weshalb hatte er sie so verletzt? Weshalb hatte er ihr vor ihrem Tod noch soviel Leid aufbürden müssen?
Frodo holte tief Luft und schluckte schwer, versuchte, die Tränen in seinen Augen zu verbergen. Sein Blick fiel auf Merry und Pippin, die, unweit von ihm entfernt, bei ihren Eltern standen und nur mit geringem Erfolg gegen ihre Tränen ankämpften. Esmeralda hatte die Arme um Merry gelegt und die Hände vor seiner Brust verschränkt. Pippin stand bei seinem Vater, der einen tröstenden Arm um ihn gelegt hatte.
Frodo schloss die Augen, ermöglichte dadurch einer einzelnen Träne, sich einen Weg über seine Wangen zu suchen. Ein Arm wurde um seine Schultern gelegt und zog ihn in eine Umarmung, die Frodo widerstandslos geschehen ließ. Es war ein Bedürfnis, das nun endlich gestillt werden sollte. Bilbos Trost und sein Mitgefühl legten sich wie Balsam um Frodos hungernde Seele.
Erschrocken öffnete Frodo die Augen, als ihm plötzlich klar wurde, was es war, das er zuließ: eine Umarmung. Seine Umarmungen brachten das Leid, er selbst war es, der das Unglück brachte. Frodo verkrampfte sich, doch war er unwillig, sich aus der Umarmung zu lösen.
Nur dieses Mal. Bitte, nur dieses eine Mal. Bilbo wird nichts geschehen, nur wegen einem Mal. Es darf ihm nichts passieren. Nur dieses eine Mal, und ich verspreche, ich werde ihn nie wieder umarmen.
Zögernd schloss er erneut die Augen und gab sich dem Gefühl des Trostes hin. Ein Gefühl der Wärme erfüllte ihn. Wärme, nach der er sich so sehr sehnte und bei keinem war sie so stark und ausgeprägt, wie bei Bilbo.
Plötzlich war der Arm um seine Schulter fort, und mit ihm die Geborgenheit. Voller Überraschung öffnete Frodo die Augen und fröstelte ob dem Verlust.

Bilbo hatte nicht mit Frodo gesprochen, auch wenn er fest entschlossen war, dies noch zu tun. Er hatte am vergangenen Abend lange über das Gespräch mit Saradoc und Gorbadoc nachgedacht. Es hatte ihm keine Ruhe gelassen und immer wieder fragte er sich, was wohl in Mirabellas Zimmer geschehen sein konnte. Was Frodo dort zu suchen hatte, war ihm klar. Er hatte seine Großmutter besuchen wollen. Doch dann musste etwas geschehen sein, mit dem er nicht gerechnet hatte. War der Anblick des von der Krankheit gezeichneten Körpers Mirabellas zuviel für ihn gewesen? Hatte Mirabella etwas gesagt, das ihn beunruhigt hatte? Darauf konnte nur Frodo ihm antworten, doch der Junge hatte auch am heutigen Tag noch kein Wort von sich gegeben.
"Er lässt nicht mit sich reden, ich glaube, er hört nicht einmal zu. Er weicht jeglichen Berührungen aus und schließt sich in seinem Zimmer ein."
Gorbadocs Worte klangen in seinen Ohren und Bilbo entschied, diese Dinge selbst zu prüfen. Vorsichtig legte er einen Arm um Frodos Schulter und zog den Jungen zu sich. Er war beinahe überrascht, keinerlei Widerwillen zu verspüren.
Er lässt sich also doch in den Arm nehmen. Vielleicht sind Saradocs Augen nicht ganz so wachsam, wie er vielleicht glaubt. Was war es, mein Junge, das dich so gegen Saradoc hat vorgehen lassen?
Für einen Augenblick spannte sich Frodos Körper an und Bilbo runzelte nachdenklich die Stirn.
Oder vielleicht bin ich es, dessen Augen nicht wachsam genug sind und du lässt mich nur gewähren, weil du bei Mirabellas Beisetzung nicht unnötig auffallen willst? Womöglich habe ich also nur Glück und sollte vorsichtiger sein, als ich es im Augenblick bin.
Vergraule den Jungen jetzt nicht, Bilbo, oder du wirst es bei einem Gespräch mit ihm schwer haben.

Bilbo wollte kein Risiko eingehen, wollte nicht, dass ihm dasselbe geschah, wie Saradoc und so nahm er den Arm von Frodos Schultern. Als er auf den Jungen hinunter blickte, bemerkte er plötzlich, dass Frodo fröstelte.
"Ist dir kalt, mein Junge?"

Frodo blickte zu ihm auf, Verwunderung in seinen Augen.
"Ja", antwortete er rasch, in der Hoffnung, Bilbo würde erneut einen Arm um ihn legen.
Zu seiner Überraschung war ihm keine weitere Umarmung vergönnt. Stattdessen zog Bilbo seinen Mantel aus und legte ihn ihm um die Schultern. Verwirrung und Traurigkeit ließen Frodo wieder in Schweigen verfallen und er senkte betrübt den Kopf. Eigentlich sollte er froh sein, dass Bilbo ihn nicht in den Arm nahm. Es war besser für sie beide. Doch andererseits war Bilbos Mantel weit davon entfernt, dieselbe Wärme zu spenden, wie Bilbos Umarmung. Frodo seufzte leise und schlang den Mantel, der ihm viel zu groß war, enger um sich.



~*~*~



Kaum waren die Hobbits wieder zurück im Brandyschloss, stürmte Frodo in sein Zimmer. Merry und Pippin folgten ihm und deshalb war besondere Eile geboten. Rasch griff Frodo nach dem Knauf, drehte ihn und rannte geradewegs in die Tür. Erschrocken schnappte er nach Luft und versuchte erneut, in sein Zimmer zu gelangen, doch es war vergebens. Jemand hatte die Tür verschlossen und dieser Jemand konnte nur Saradoc sein, denn nur der Herr von Bockland besaß die Schlüssel zu den einzelnen Zimmern im Brandyschloss. Für einen Augenblick trat ein wütendes Funkeln in seine Augen, ehe er den Gang entlang zurück eilte. Wenn Saradoc ihn nicht in seinem Zimmer wollte, dann würde er sich einen anderen Ort suchen, an dem er alleine sein konnte.

Merry und Pippin wären beinahe mit ihm zusammengestoßen, als er um die Biegung rannte
"Frodo, wo willst du hin?", fragte Merry verzweifelt und nahm erneut die Verfolgung auf, während Pippin ebenfalls hinter seinem Vetter her eilte.
"Bleib hier, bitte", bat Pippin und blickte Frodo flehend nach, als dieser bereits durch den Haupteingang nach draußen sprang.

Bilbo, der auf dem Weg in eines der Wohnzimmer war, wo sich alle versammeln wollten, um gemeinsam zu speisen und der Verstorbenen zu gedenken, hörte Merrys verzweifeltes Rufen und wandte sich gerade rechzeitig um, um zu erkennen, wie Frodo nach draußen stürmte. Er rief Merry und Pippin zurück, hielt sie davon ab, Frodo zu folgen.
"Lasst ihn alleine, Kinder", sagte er, als die beiden Hobbits fragend zu ihm aufblickten. "Ich werde später mit ihm sprechen und dann werdet ihr euren Vetter hoffentlich bald zurückhaben."
Er legte beiden der jungen Hobbits eine Hand auf die Schulter und blickte Frodo hinterher.
"Was hat er denn, Onkel Bilbo?", fragte Pippin ein wenig verwirrt. "Warum läuft er vor uns davon?"
Bilbo seufzte. "Ich weiß es nicht, Pippin, doch ich hoffe, ich werde es bald herausfinden."



~*~*~



Frodo setzte zum Fluss hinunter, sprang auf die Fähre und löste die Taue. Er wusste, im Brandyschloss würde er nicht in Ruhe gelassen werden, weshalb sonst hätte Saradoc seine Zimmertür verschlossen? Der einzige Ort, wo er im Augenblick ungestört sein konnte, war auf seinem Apfelbaum im Bruch. Nicht einmal Merry würde ihm folgen, nicht jetzt da Pippin hier war. Frodo stieß das Fährenboot mit dem Bootshaken ab, woraufhin es gemächlich über das Wasser glitt.

Als er das andere Ufer erreichte, wandte er sich noch einmal um und blickte nachdenklich zurück. Er fühlte sich, als befände er sich auf der Flucht, doch wovor er flüchtete, konnte er nicht sagen. Rasch eilte Frodo den Fährweg entlang, bis er schließlich die Straße erreichte und ihr bis zum Apfelbaum folgte. Der Baum stand in voller Blüte und obschon Frodo wusste, dass es nicht gern gesehen war, wenn Kinder in einen blühenden Baum kletterten, tat er es dennoch. Müde lehnte er sich mit der Wange an den Stamm des mächtigen Baumes und schloss die Augen. Der Geruch der Blüten stieg ihm in die Nase und gelegentlich hörte er das Summen einiger Bienen und das Zwitschern junger Vögel. Es war Frühling und doch herrschte in seinem Herzen noch immer der frostige Winter mit seinen eisigen Klauen.
Frodo seufzte. Die Wärme, die er für einen kurzen Augenblick hatte spüren dürfen, war ihm genommen worden, nicht aber die Sehnsucht danach.
Hör auf damit, schalt er sich selbst. Es darf nicht wieder geschehen. Hör auf, daran zu denken und vergiss Umarmungen, vergiss Bilbo, und lerne, so zurechtzukommen. Es ist besser so, besser für dich und für alle anderen.



~*~*~



Von Merry hatte Bilbo erfahren, wo er Frodo würde finden können, sollte dieser sich nicht irgendwo in der Nähe des Brandyschlosses aufhalten. Festen Schrittes stapfte er nun den Fährweg hinauf, entschlossen, die Wahrheit von Frodo zu erfahren. Was auch immer geschehen war, sollte nicht länger geheim bleiben.
Bilbo hielt einen Augenblick inne. Er war angenehm überrascht gewesen, als Frodo bei Mirabellas Beisetzung mit ihm gesprochen hatte, auch wenn er nicht mehr als ein Wort von sich gegeben hatte. Dennoch ließ ihn Frodos Stimme nun nicht mehr los. Etwas, das er zuvor nicht wahrgenommen hatte, schien plötzlich immer klarer in seinen Gedanken zu werden. Hatte er den Hauch einer Bitte aus Frodos Antwort vernommen? Doch wenn dem so war, worum hatte Frodo ihn so heimlich gebeten?
Bilbo seufzte und schüttelte den Kopf. Es war höchste Zeit, mit dem Jungen zu sprechen.
Schon von weitem konnte er den Apfelbaum sehen, ebenso wie Frodo, der ihm den Rücken zugewandte hatte. Schweigend trat Bilbo an den Baum, wohl wissend, dass Frodo ihn bemerkt hatte, denn er konnte den Blick des Jungen spüren. Scheinbar gleichgültig lehnte er sich an den Stamm und Stille zog über ihm herein. Nicht nur Frodo, sondern jegliches Getier im Bruch schien auf eine Aussage seinerseits zu warten. Bilbo entschied, sie noch einen Augenblick länger warten zu lassen.
"Ich habe mir sagen lassen, du würdest jeglichen Berührungen aus dem Weg gehen und doch hast du nicht protestiert, als ich heute einen Arm um dich legte. Weshalb?" Bilbos Stimme war ruhig, klang, als würde er sich über das Wetter unterhalten. Es war eine reine Feststellung.
Keine Antwort. Bilbo sah nicht nach oben, doch konnte er hören, wie Frodo auf seinem Ast unruhig wurde. Einige weiße Blütenblätter regneten auf ihn herab.
"Ich werde nicht gehen, Frodo. Nicht, ehe du antwortest."
Wieder regneten einige Blütenblätter auf ihn herab, doch noch immer erhielt er keine Antwort, außer einem leisen, entnervten Seufzen. Bilbo entfernte sich einen Schritt vom Stamm und blickte nach oben. Die weißen Blüten des Apfelbaumes bildeten einen Kontrast zu Frodos dunklem Lockenkopf, der ihm nun mit einem Ausdruck, den Bilbo nicht zu deuten wusste, entgegen blickte. War es Wut, Erleichterung, Zorn, Verzweiflung, das sich in Frodos Augen widerspiegelte? War es nichts von alledem, oder gar alles zugleich?
Bilbo wusste nichts mit diesem Ausdruck anzufangen und entschied, ein wenig länger zu warten. Wieder lehnte er sich an den Stamm und verschränkte die Arme vor der Brust. Schließlich hörte er die Blüten über sich rascheln und wieder purzelten weiße Blütenblätter auf ihn herab, bis plötzlich Frodo neben ihm auf dem Boden stand. Das Gesicht des Jungen trug noch immer denselben Ausdruck, wie zuvor, während er ihn einige Augenblicke ansah, sich dann plötzlich umwandte und davon laufen wollte. Blitzschnell griff Bilbo nach Frodos Handgelenk und hielt ihn auf. Frodo wehrte sich, stand dann aber still, als er erkannte, dass Bilbo ihn nicht loslassen würde.
"Weshalb läufst du weg, Frodo?", fragte Bilbo besorgt und tiefe Falten zeigten sich auf seiner Stirn. "Weshalb lässt du weder mit dir reden, noch irgendwen in deine Nähe?"
Frodo wandte den Blick ab, schluckte schwer und hob dann zögernd den Kopf.
"Ich will dich nicht verletzen", wisperte er mit einer Stimme, als wäre er den Tränen nahe.
Bilbo verspürte einen schmerzhaften Stich im Herzen und für einen kurzen Augenblick lockerte sich sein Griff um Frodos Handgelenk. Das Kind ließ sich diese Möglichkeit nicht entgehen, befreite sich vollends aus dem Griff und begann zu laufen.

Frodo rannte, bis er die Straße erreichte doch dort hielt er inne, blickte zögernd zu Bilbo zurück, der noch immer wie versteinert unter dem Apfelbaum stand. Es stimmte, er wollte ihn nicht verletzen, wie er Mirabella verletzt hatte und doch wollte er ihn ebenso wenig alleine dort stehen lassen. Er wollte nicht gehen, obschon er wusste, dass es besser wäre, wenn er davon lief. Frodo tat einen weiteren Schritt, ehe er erneut stehen blieb.
Sein ganzer Körper schien sich gegen ein fort bewegen zu wehren. Alles in ihm schrie danach, zu bleiben, schrie nach der Wärme, die er am Morgen gespürt hatte. Wie lange hatte er sich danach gesehnt? Wie groß war die Sehnsucht in den vergangenen Tagen geworden, als er plötzlich erneut verlassen wurde?
Er sank auf die Knie.
Es darf nicht sein. Wenn ich ihn umarme, wenn ich mit ihm rede, wird er genauso sterben, wie Mirabella es getan hat und meine Eltern vor ihr. Jeder, der mir Nahe steht, wird sterben und mich zurücklassen. Ich darf es nicht zulassen, ganz gleich was passiert. Ich darf nicht…
Frodo zuckte zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Bilbo stand hinter ihm und auf einmal schienen all seine Vorsätze vergessen und nur mehr die Sehnsucht lebte in ihm. Mit einer plötzlichen Bewegung wandte er sich um, fiel Bilbo in einer beinahe krampfhaften Umarmung um den Hals.
Es tut mir Leid, aber bitte umarme mich.
Als hätte Bilbo seine Bitte gehört, legte er zögernd einen Arm um Frodo und erfüllte den lange gehegten Wunsch. Frodo hatte die Augen geschlossen und seine Finger hatten sich verzweifelt in Bilbos Mantel gegraben, als wäre er unwillig, jemals wieder los zu lassen.

Bilbo verstand die Welt nicht mehr. So verzweifelt hatte er Frodo bisher nur einmal erlebt und selbst damals war es eine andere Verzweiflung wie jene, die sich ihm nun darbot. Damals hatte Frodo aus Angst vor einem Traum so krampfhaft reagiert, doch dieses Mal war es anders. Hier gab es keinen Traum und die Art, wie Frodo ihn umarmte versetzte ihn in Schrecken. Hatte Saradoc nicht gesagt, er ließe sich nicht berühren? Nun schien es ganz anders. Frodo schien die Umarmung förmlich erzwingen zu wollen. Und doch war da ein Gefühl der Verzweiflung, der Endlichkeit, als wäre dies die letzte Umarmung, die Frodo jemals zuteil werden sollte und diese schien er nun um alles in der Welt auskosten zu wollen.

"Ich will dich nicht verletzen."
Was ist mit dir geschehen, mein Junge?

Als Frodo sicher war, dass Bilbo ihn nicht sofort loslassen würde, entspannte er sich ein wenig. Wieder umgab ihn eine wohlige Wärme, ein Gefühl des Trostes, der Geborgenheit. Etwas in ihm schrie noch immer, doch diese Stimme war leiser geworden, labte sich nun an der Wärme, die ihn umgab.
Bilbos löste sich schließlich zaghaft aus der Umarmung und auch Frodo, ließ, wenn auch nur widerwillig, los. Bilbos Arme ruhten auf seiner Schulter, als der alte Hobbit den Kopf ein wenig schief legte und traurig fragte: "Wie könntest du mir Schmerz zufügen?"
Frodo seufzte, blickte verzweifelt in die Augen seines Onkels und schluckte, während er den Wunsch unterdrückte, ihn erneut zu umarmen. "Fragen mögen harmlos erscheinen, doch die Antworten führen zu Leid."
Er stand auf, verharrte einige Augenblicke regungslos, ehe er sich schließlich umwandte und zu laufen begann, so schnell ihn seine Beine trugen.

Frodo rannte, bis seine Knie weich wurden und seine Lungen zu bersten drohten. Erschöpft hielt er an, versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er hatte die Fähre erreicht und lehnte sich nun an einen der weißen Pfosten am Flussufer, ließ sich daran langsam zu Boden sinken. Tränen traten in seine Augen, doch er wischte sie weg. Niemand sollte ihn jemals wieder weinen sehen, niemand sollte glauben, er brauche deren Trost. Niemand. Keiner sollte mehr seinetwegen leiden müssen.
Verzweifelt vergrub er den Kopf in seinen Händen und kämpfte gegen seine Tränen an.
"Warum ich?", flüsterte er, ohne auf eine Antwort zu hoffen. "Warum bleibt mir genau das verwehrt, was ich mir am meisten wünsche?"

Bilbo blutete das Herz, als er diese Worte vernahm, dennoch war er der Ansicht, Frodo genau im richtigen Augenblick eingeholt zu haben. Noch immer wusste er nicht viel mit dem Verhalten des Kindes anzufangen, doch langsam begann er zu begreifen.
Sehnte Frodo sich nach Umarmungen, die ihm nicht zuteil wurden? Andererseits war es jedoch Frodo gewesen, der den Berührungen aus dem Weg gegangen war und doch war sich Bilbo sicher, dass Umarmungen einen Grund für sein jetziges Verhalten waren, sonst hätte der Junge ihn zuvor nicht so krampfhaft in den Arm genommen.
Bilbo holte tief Luft und versuchte erneut, die Distanz, die zwischen ihm und Frodo aufgekommen war, zu verringern, indem er sich schweigend neben den Jungen setzte und einen Arm um seine Schultern legte. "Nichts muss dir verwehrt bleiben, wenn du es zulässt, mein Junge."

Frodo zuckte zusammen, wich erschrocken zurück und starrte Bilbo mit weit aufgerissenen Augen an.
"Das verstehst du nicht", meinte er dann leise und blickte demonstrativ in die andere Richtung.
Bilbo unterdrückte ein Seufzen. "Du warst bei Mirabella, kurz vor ihrem Tod."
Frodo zuckte kaum merklich zusammen.
"Habt ihr miteinander gesprochen? Hat sie dich umarmt?", wollte Bilbo wissen.
Frodo wandte sich erneut zu ihm um, blickte ihn durchdringend an. Für einen Augenblick glaubte Bilbo, Wut in den blauen Augen des Jungen blitzen zu sehen, doch Frodo entgegnete nichts, schickte sich stattdessen an, aufzustehen. Bilbo griff nach seinem Arm und zog ihn wieder zu Boden, mit einer Kraft, die Frodo ihm nicht zugetraut hatte.
"Du wirst mir jetzt sagen, was geschehen ist, mein Junge, und wenn wir bis morgen Abend hier sitzen. Bei Saradoc mag dir deine Sturheit vielleicht nützlich sein, doch hier hast du es mit einem weiteren Beutlin zu tun und ich kann mindestens genau so starrköpfig sein, wie du."
Frodo starrte ihn entgeistert an. Bilbo seufzte leise und die Strenge, die zuvor in seiner Stimme gelegen hatte, schwand. "Ich kenne dich, Frodo. Du fürchtest dich und ich würde gerne wissen, was dir solche Angst machte, dass du nun glaubst, jedem aus dem Weg gehen zu müssen."
Frodo wandte den Blick ab.
Bilbo sah ihn lange Zeit schweigend an. "Also gut, ich habe Zeit."

Frodo blickte stumm auf den Brandywein. Das bräunliche Wasser floss gemächlich murmelnd dahin.
Warum wollte jeder mit ihm darüber sprechen, was bei Mirabella geschehen war? Warum ausgerechnet Bilbo? Er hatte es nicht verdient, dass er so von ihm behandelt wurde. Bilbo war immer gut zu ihm gewesen, hatte ihn immer verstanden, hatte ihn nie gedrängt, Dinge zu erzählen, die er nicht erzählen konnte. Weshalb tat er es nun?
Frodo seufzte leise, seine Augen noch immer ziellos auf das Wasser gerichtet. Weshalb konnte nicht alles so sein, wie vor vier Jahren, als Bilbo ihn das letzte Mal besucht hatte? Warum musste er ihn traurig stimmen? Er stockte einen Augenblick, schluckte dann schwer und senkte den Kopf, ließ den Blick auf seinen im Schoß liegenden Händen, ruhen. Es hatte bereits begonnen. Schon jetzt fügte er Bilbo Leid zu, selbst wenn er nicht sprach und die Mauer um sich herum, so gut es ging, aufrechterhielt. Warum musste es Bilbo sein? Bilbo, der ihm soviel mehr gab, als alle anderen. Weshalb war er nun derjenige, vor dem er zurückwich?

Frodo wünschte sich nichts mehr, als dass er die Zeit zurückdrehen konnte, um sowohl Bilbo, als auch sich selbst unnötigen Schmerz zu ersparen. Dadurch, dass er sich in seinem Zimmer verkrochen hatte, erfuhr er erst am Morgen nach seiner Ankunft, dass Bilbo hier war. Er hatte sich damals nichts mehr gewünscht, als zu ihm gehen zu können, doch er hatte Angst gehabt und der Gedanke an Mirabella hatte ihn seinen Wunsch vergessen lassen. Noch dazu war Saradoc an jenem Morgen auf ihn zu gekommen, und Frodo hatte es für besser gehalten, wieder in sein Zimmer zu gehen. Dort war es wesentlich leichter, Gesprächen aus dem Weg zu gehen, als in der Gegenwart mehrerer Hobbits.

Während er seinen Gedanken nachging, regte sich erneut der Wunsch in ihm, umarmt zu werden. Die Sehnsucht nach der Wärme, die er zuvor empfunden hatte, kehrte wieder und Frodo wusste, sollte ihn Bilbo nun in den Arm nehmen, würde er nichts dagegen unternehmen können. Doch es durfte nicht geschehen. Er wollte Bilbo nicht noch mehr Schmerz zufügen, als er es ohnehin schon getan hatte.
Ein leises Wimmern entwich seiner Kehle und er biss sich erschrocken auf die Unterlippe. Er würde nicht weinen.

"Ich weiß, weshalb du nicht sprichst", sagte Bilbo dann sanft, und auch wenn Frodo angespannt lauschte, hob er den Kopf nicht. "Es ist, wie du es mir bei meinem letzten Besuch erklärt hast: Du kannst deine Gedanken nicht in Worte fassen, kannst nicht darüber sprechen."
Frodo sah ihn verwundert an, doch Bilbo blickte starr gerade aus.
"Hast du denn in der Zwischenzeit zumindest versucht, mit jemandem zu sprechen?", Bilbos Blick war nun wieder auf ihn gerichtet und Frodo senkte rasch den Kopf.

Nur für einen kurzen Augenblick huschte ein gequälter Ausdruck über das Gesicht des Jungen und dieser war Bilbo Antwort genug. "Du hast mit Mirabella darüber gesprochen."
"Ich wollte es nicht", platzte es aus Frodo heraus und Bilbo erschrak ob der Lautstärke seiner Stimme. "Sie hat gefragt und ich konnte nicht anders, als zu antworten", er stockte, "Ich wollte sie doch nicht traurig stimmen. Sie sollte nicht weinen, wo es ihr ohnehin schon so schlecht ging."
Frodo kämpfte verbissen gegen die Tränen an, die sich in seinen Augen sammelten und blickte wieder zum Fluss.
Bilbo blutete das Herz ob Frodos verzweifelter Stimme. Er wollte einen Arm um Frodos Schultern legen, entschied sich dann aber dagegen. "Was hast du ihr gesagt?"
Die Augen des jungen Hobbits funkelten, als er sich wieder Bilbo zuwandte und ihm klar machte, dass dies nun keine Rolle mehr spielte und niemand, außer Mirabella, jemals davon erfahren werde.
Bilbo wusste, dass Frodo nicht darüber sprechen würde, nichtsdestotrotz wagte er einen weiteren Versuch. "Sag es mir, Frodo. Wenn du einmal geschafft hast, die Dinge, die dich beschäftigen, in Worte zu fassen, dann wird es dir auch wieder gelingen."
Frodo starrte ihn entgeistert an. "Denkst du, ich will, dass dir dasselbe geschieht, wie ihr?"
Bei diesen Worten konnte sich Bilbo nicht länger zurückhalten und zog Frodo rasch in eine feste Umarmung. "Ich werde nicht sterben, Frodo. Mirabella war alt und krank und dann geschehen solche Dinge nun einmal. Deine Unterhaltung mit ihr hatte darauf keinen Einfluss."
"Du bist auch alt", beharrte Frodo und versuchte, gegen seine Sehnsucht anzukämpfen, musste dann aber einsehen, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte und gab sich der Umarmung hin. "Und Mama und Papa sind tot, obwohl sie nicht alt waren. Jeder, der von meinen Gedanken weiß, ist tot."
Frodo war so aufgewühlt, er hatte zu zittern begonnen, doch Bilbo nahm ihn nur noch fester in den Arm und versuchte, ihn zu trösten. Er konnte kaum glauben, dass Frodo sich noch immer die Schuld am Tod seiner Eltern gab, wie er es getan hatte, als er bei ihm in Beutelsend gewesen war. Bilbo hatte geglaubt, ihm diese Bürde bereits abgenommen zu haben, doch offensichtlich war dem nicht so. Mirabellas Tod lastete nun zusätzlich auf seinen Schultern und Bilbo begann zu wünschen, dass Frodo nicht zu ihr gegangen wäre.
"Das hat nichts mit dir zu tun, mein Junge. Manche Dinge geschehen, ohne dass uns deren Sinn klar wird. Du hast nichts damit zu tun, Frodo. Dafür kannst du nichts. Niemand kann etwas dafür."
Frodo schluchzte, erlaubte sich aber noch immer nicht zu weinen. "Aber ich habe sie umarmt und dann… das Blut…", er stockte und sprach nicht weiter.

Das war also des Rätsels Lösung. Ein Seufzer der Erleichterung entwich Bilbos Lippen, als er zärtlich durch Frodos Locken strich. Verzweifelt versuchte er, dem Jungen zu erklären, dass auch das nicht seine Schuld war. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass Frodo sich entspannte, je länger er sprach. Es war nun keine erzwungene Umarmung mehr, keine Umarmung voller Verzweiflung und Angst. Es ging nur mehr darum, Trost zu spenden und zu erhalten.

Alle Bürden schienen von Frodos Herzen zu weichen, während er in Bilbos Armen lag. Die Wärme kehrte zurück und erfüllte ihn von neuem. Er hatte die Arme um Bilbos Oberkörper geschlungen, während sein Kopf auf dessen Brust ruhte. Tränen der Erleichterung hatten sich in seinen Augen gesammelt, doch Frodo blinzelte sie weg. Er wisperte eine leise Entschuldigung, wusste aber bereits, dass Bilbo ihm sein Verhalten vergeben würde. Bilbo verstand ihn und dafür war er dankbar.





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