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Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Kapitel 42: Alles, was blieb



Marroc Boffin konnte nur immer wieder den Kopf schütteln, wenn er Frodo sah. Er konnte ihn nicht leiden, hatte ihn nie gemocht. Seit dem Tod der Eltern war seine Abneigung gegen den Jungen noch größer geworden und das ließ er ihn auch deutlich spüren. Für seinen Geschmack hing das Kind viel zu sehr an seinen Eltern, ein Muttersöhnchen, wie er ihn gerne genannt hatte, und selbst das schien nach dem Tod der beiden noch schlimmer geworden zu sein. Seither schleppte er dieses Bild mit sich herum und was noch viel schlimmer war, er führte Tagebuch! Er hatte darin gelesen, auch wenn es schon sehr lange her war. Alleine was der Junge dort hinein schrieb, hätte für Marroc genügt, ihn nicht zu mögen. Er jammerte. Ständig jammerte er, wie schlecht es ihm doch ginge und wie grausam die Welt zu ihm sei. Dabei hatte er alles, was er sich nur wünschen konnte. Er lebte in einer großen Höhle, war der Ziehsohn des Herrn persönlich und noch dazu hatte er ein eigenes Zimmer. Marroc selbst musste sein Zimmer, dank des kleinen Jammerlappens, noch immer mit seinen Eltern teilen.
Wie konnte Frodo in seinem Tagebuch dennoch jammern? Wie naiv war der Junge eigentlich? Er hatte alles und beklagte sich trotzdem! Natürlich waren seine Eltern tot, doch das war noch lange keine Entschuldigung für sein Verhalten.
Nein, er mochte ihn nicht und das würde er ihn auch weiterhin spüren lassen. Er würde ihm noch zeigen, wie dumm und naiv er war. In gewisser Weise bereitete es ihm sogar Freude, ihm Leid zuzufügen. Für ihn war es kein Leid zufügen, nein, er konfrontierte den Jungen mit der Wirklichkeit, aus der er scheinbar nur allzu gern zu flüchten schien. Er wollte ihn brechen, wollte ihm zeigen, wie überflüssig er war. Wozu war er denn schon nutze? Er taugte nichts, träumte nur vor sich hin und jammerte. Und diese Kinder, auf die er aufpasste, weshalb tat er das? Die Kinder brauchten ihn nicht, niemand brauchte ihn. Es war lächerlich!

Marroc lachte in sich hinein, ließ seine beobachtenden Augen erneut durch das Wohnzimmer schweifen. Weder das Muttersöhnchen noch der Sohn des Herrn hatte er heute gesehen. Er hatte sie am Vorabend belauscht. Sie hatten geplant, auf den Heuboden zu gehen, was immer sie dort oben auch machen wollten. Vermutlich waren sie in eben jenem Moment bereits in den Ställen. Ein hämisches Grinsen glitt über seine Züge. Die Zeit war gekommen, seinen neusten Plan auszuführen.

So sehr Marroc es auch hasste, dass jemand Tagebuch führte, Frodo hing an seinem Buch und genau dieses wollte er ihm nehmen. Er wollte die Traurigkeit in seinen Augen sehen, wenn er danach suchte, die Verzweiflung, wenn er sich darüber Gedanken machte, wer nun in seinen lächerlichen Eintragungen stöberte.

Noch immer grinsend, erhob er sich schließlich von seinem Platz im Wohnzimmer und schlich durch die spärlich beleuchteten Gänge des Brandyschlosses. Kaum jemand begegnete ihm und wenn er doch einem Hobbit über den Weg lief, dachte sich dieser nichts dabei. Was sollte er denn auch denken? Niemand konnte von seinem Plan wissen, denn nicht einmal Ilberic und Sadoc hatte er darin eingeweiht. Vielleicht würde er sie später daran teilhaben lassen, wenn er das kostbare Buch in seinen Besitz gebracht hatte.

Ein letztes Mal blickte er in beide Richtungen, als er vor Frodos Zimmertüre stehen blieb. Er war alleine. Vorsichtig drückte er den Türgriff hinunter, öffnete leise die Türe und schlich auf Zehenspitzen in das Zimmer, ehe er diese geräuschlos wieder schloss. Nun musste er das Tagebuch nur noch finden. Er ließ seinen Blick durch das kleine Zimmer schweifen, als seine Augen auf dem Nachttisch haften blieben. Neben dem Bild, stand dort auch ein Tablett mit einer Tasse, einer Kanne Tee und einem Teller mit einem Stück Brot, das nicht angerührt worden war. Er verharrte regungslos. Konnte es etwa sein, dass Frodo im Zimmer war? Ungehört schlich er an das Bett heran und tatsächlich: dort lag er, scheinbar schlafend. Ein Grinsen glitt über sein Gesicht.
Der kleine Junge, der so sehr an seinen Eltern hing, war also krank geworden. Er musste sehr vorsichtig sein, wenn er dennoch an seinem Plan festhalten wollte, oder er musste gehen. Doch gehen wollte er nicht. Die Tatsache, dass Frodo schlafend vor ihm lag, gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit, welches er gänzlich genießen wollte, während sich in seinen Gedanken bereits neue Ideen spannen.

In eben diesem Augenblick schlug Frodo die Augen auf. Er schlief also doch nicht. Marroc erfreute sich am Schrecken in den Augen des Jungen. Sein Grinsen wurde noch breiter, als dieser im Bett zurückwich, dabei scheinbar unter Schmerzen zusammenzuckte. Ja, das Muttersöhnchen hatte allen Grund, sich zu fürchten. Er wusste noch nicht genau, was er aus dieser Lage machen würde, doch seine Pläne hatten sich geändert. Das Tagebuch konnte warten.



~*~*~



"Marroc", Frodos Stimme war kaum mehr, als ein Wispern.
Frodo schwindelte, stützte sich schwer auf seine linke Hand, als er sich an der Wand zurücklehnte. Sogleich ergriff der Schmerz wieder Besitz von ihm. Er spürte den rasenden Schlag seines Herzens, konnte das Pochen dröhnend in seinen Ohren hören.
Seine Gedanken überschlugen sich. Wie war Marroc hierher gekommen? Was wollte er hier?

Marroc setzte sich, noch immer grinsend, auf das Bett. Frodo folgte seiner Bewegung mit den Augen, auch wenn er noch immer nicht klar sah.
"Du siehst krank aus", sagte der Junge, wobei falsche Sorge in seiner Stimme mitklang.
Frodo wich zurück, als er die Hand nach ihm ausstreckte. Vor seinen Augen drehte sich alles plötzlich noch schneller, als zuvor und er spürte, wie ihm übel wurde. Er wollte die Augen schließen, um seiner Sinne Herr zu werden, doch wagte er es nicht. Wer wusste, ob Marroc diese Situation nicht ausnützen würde? Andererseits war es im Augenblick ganz gleich, was er tat, er war Marroc unterlegen, jetzt noch mehr, als für gewöhnlich und so schloss er seine Augen, bis das Schwindelgefühl vorüber war. Als er sie wieder öffnete, war Marrocs Gesicht direkt vor dem seinen. Erschrocken wich Frodo zurück, vergessend, dass er bereits mit dem Rücken an der Wand lehnte und schlug hart mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Ein Zischen entwich seinen Lippen. Einen Augenblick sah er schwarze Punkte vor seinen Augen tanzen. Sein Kopf dröhnte und ein seltsames Pfeifen klang in seinen Ohren.
"Du musst vorsichtiger sein", mahnte Marroc. "Du wirst dich noch verletzen."
Frodos glasige Augen funkelten vor Wut. "Was willst du hier?"
Marroc setzte sich bequemer hin, betrachtete den Jungen mit einem höhnischen Grinsen im Gesicht. "Ich hatte meine Pläne, als ich hier herein gekommen bin, doch diese haben sich nun geändert."
Frodo beobachtete ihn argwöhnisch. Sein Blick glitt zur Tür. Ob seine Tante Merry bereits Bescheid gegeben hatte? Entsetzt fuhr er herum, als er aus den Augenwinkeln erkannte, wie Marroc nach dem Bild seiner Eltern griff. Wieder wurde ihm schwindelig, doch dieses Mal versuchte er, dies nicht zu beachten.
"Stell das wieder hin!" verlangte er mit einer Stimme ,die lauter klang, als er es für möglich gehalten hätte und doch lag ein angstvoller Unterton in ihr.
Marroc durfte es nicht haben! Er hatte kein Recht dazu! Es war sein Bild und niemand durfte es ihm nehmen. Niemand durfte es so in die Hand nehmen, wie Marroc dies gerade tat, dessen grobe Finger den Rahmen gepackt hatten, während seine Augen es abschätzig betrachteten.
Marroc schien ihn nicht zu hören, nicht hören zu wollen.
Nervöse Unruhe breitete sich in ihm aus. Alles, nur nicht das Bild! Wie hatte er zulassen können, dass Marroc an das Bild kam? Er musste es wieder bekommen. Seine Augen hatten einen sturen, verbissenen Ausdruck angenommen.
"Gib es mir zurück!" forderte er.
Marroc wandte sich kurz zu ihm um. Frodo glaubte, ein böses Funkeln in seinen Augen zu erkennen. Angst ergriff sein Herz. Er würde es ihm wegnehmen. Das durfte nicht passieren, nicht sein Bild, nicht das Bild seiner Eltern. Das Schwindelgefühl und auch den Schmerz ignorierend, stützte er sich auf seine Hand und tastete mit zittrigen Fingern nach Marrocs Arm.
"Gib es mir!" verlangte Frodo noch einmal verzweifelt und zog ihn am Ärmel, während er seine andere Hand nach dem Bild ausstreckte.
Ruckartig hob Marroc seinen rechten Arm und stieß ihn weg. Frodo schlug mit dem Rücken gegen das Fußende des Bettes. Zischend entwich die Luft aus seinen Lungen, als sich die Welt erneut zu drehen begann und ein beständiges Pochen Besitz von seinem Körper ergriff.
Seine Augen waren verzweifelt auf das Bild in Marrocs Händen gerichtet. Dieser sah ihn nun herablassend an, seine Hände noch immer grob den Rahmen umschließend.
Er durfte es nicht verlieren, nicht an Marroc. Seine Augen waren wässrig geworden, als der Schmerz ihm den Atem raubte.
Seine Stimme war kaum mehr, als ein Flüstern, als er verzweifelt zu ihm aufsah. "Bitte, bitte gibt es mir zurück!"
Er schwindelte, als er sich aufrichtete und von neuem einen Versuch wagte, sein Bild zurückzuerhalten. Doch Marroc war aufgestanden, noch ehe Frodo die Kraft gefunden hatte, sich vollständig aufzurichten.
"Bitte!" flehte er ein letztes Mal und Tränen sammelten sich in seinen Augen. "Nicht das Bild!"

Marroc grinste höhnisch. Ein Jammerlappen, ein Muttersöhnchen, ein Schwächling. Er saß vor ihm, zitternd, weinend und flehte ihn an, um ein dämliches Bild. Er schüttelte den Kopf.
"Da hast du dein Bild!"
Mit all seiner Kraft schleuderte er die eingerahmte Zeichnung auf den Fußboden. Ein Klirren, ein erstickter Schrei von Frodo, Stille. Leise lachend stapfte Marroc aus dem Zimmer. Er hatte etwas Besseres gefunden, als das Tagebuch.

Vor Frodos Augen war Marrocs Bewegung langsam gewesen. Er wollte das Bild retten, doch seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht. Er konnte sich selbst schreien hören, als es zu Boden fiel. Einen Moment lang vergaß er zu atmen, starrte regungslos auf die Scherben auf dem Fußboden. Es durfte nicht sein. Das Einzige, was ihm von seinen Eltern noch geblieben war und nun war es zerstört. Stumme Tränen rannen über seine Wangen, während seine Augen noch immer stur auf die Scherben blickten. Beinahe so, als würde er zu ersticken drohen, schnappte er nach Luft. All sein Schmerz schien vergessen, als er sich langsam vom Bett gleiten ließ und mit zittrigen Händen nach dem Bild tastete. Zärtlich berührten seine Finger den Rahmen, strichen sanft über das glatte Holz. Der Rahmen war gebrochen, das Glas zersplittert. Sein ganzer Körper zitterte, als er vorsichtig die Scherben vom Bild nahm. Eine Scherbe schnitt sich dabei tief in das Fleisch seiner linken Hand, doch Frodo spürte den Schmerz nicht, als er das Bild aus dem Rahmen löste. Dennoch nahm er es nur noch in die rechte Hand, um es nicht mit Blut zu beschmieren.
"Es tut mir Leid", wisperte er tonlos, drückte das Bild an seine Brust und schluchzte bitterlich.
Der Schmerz, den er zuvor ignorieren konnte, kehrte nun noch stärker zurück und Frodo legte sich vollkommen erschöpft und zitternd neben den Bilderrahmen und die Scherben, die auf dem Fußboden lagen. Ihm war, als würde sein Körper glühen, doch zugleich fröstelte er. Der Schmerz schien sich von seinen Zehen bis zu den Haarspitzen auszubreiten und mit jedem Pochen, schien er stärker zu werden. Blut tropfte von seiner linken Hand auf den Fußboden, während seine Rechte noch immer das Bild umklammerte. Nie wieder würde er es aus der Hand legen.

Als Merry wenig später in das Zimmer kam, fand er seinen Vetter regungslos auf dem Boden liegend. Frodos Körper war schweißnass und er zitterte. Furchtsam blickte er auf die Scherben auf dem Fußboden und auf die blutverschmierte Hand seines Vetters. Ängstlich stürmte er aus dem Raum, auf der verzweifelten Suche nach seiner Mutter.
Esmeralda war entsetzt, als sie Frodo sah. Eiligst hob sie ihn wieder in sein Bett, während sie Merry davon abhielt, in die Scherben zu treten, deckte ihn ordentlich zu und holte dann noch eine zweite Decke aus dem Schrank, die sie über den zitternden Körper legte. Verwundert nahm sie das Bild aus Frodos Hand, betrachtete es einen Moment nachdenklich und legte es dann auf den Nachttisch. Sie wies Merry an, ihr eine Schüssel mit kaltem Wasser und zwei Tücher zu bringen und nahm sich anschließend der Scherben auf dem Fußboden an.
Schließlich setzte sie sich wieder auf den Stuhl, den sie vor Frodos Bett geschoben hatte, strich zärtlich durch die dunklen Locken des Kindes. Frodo jammerte im Schlaf, murmelte etwas Unverständliches. Traurig und besorgt war ihr Blick, als sie sich flüsternd fragte, was hier geschehen sein mochte.
"Ich weiß es nicht, Mama", entgegnete Merry betrübt, der mit dem Wasser und den Tüchern in das Zimmer kam. "Was hat er denn? Warum war er nicht in seinem Bett?"
Esmeralda zuckte mit den Schultern, tauchte eines der Tücher in das Wasser, wrang es aus und betupfte dann Frodos Stirn und Wangen.
"Ich weiß es nicht, Merry. Vermutlich war er zu erschöpft, um wieder hineinzuklettern, doch was ihn überhaupt dazu bewegt hat, aufzustehen, kann ich dir nicht sagen."
Sie schielte zum Bild von Drogo und Primula, welches auf dem Nachttisch lag. Merry sagte sie nichts davon, doch sie vermutete, dass Frodo deshalb aufgestanden war. Allerdings glaubte sie nicht, dass das Bild von alleine herunter gefallen war. Frodo hütete das Bild wie einen Schatz und außerdem waren die Scherben zu weit vom Nachttisch entfernt gewesen, als dass es hätte heruntergefallen sein können. Jemand musste hier gewesen sein, mit der Absicht, das Bild zu vernichten und Frodo traurig zu stimmen. Wut entflammte in ihrem Herzen. Wenn sie denjenigen in die Finger bekam, der dafür verantwortlich war, …

"Er wacht auf!"
Merrys Stimme erinnerte sie wieder an ihre Aufgabe. Frodo sah sie aus müden, geschwollenen Augen an. Doch plötzlich veränderte sich sein Blick und ein panischer Ausdruck lag in seinem Gesicht.
"Wo ist es?", rief er aufgebracht. "Wo ist mein Bild?"
Esmeralda beruhigte ihn, reichte ihm schließlich das Bild seiner Eltern und Frodo entspannte sich sichtlich. Sie machte sich Sorgen. Nie hatte sie erlebt, dass er wegen des Bildes so aufgewühlt war.
"Was ist geschehen, Frodo?", wollte sie wissen.
Frodo antwortete lange Zeit nicht, ehe ein leises "Er wollte es mir wegnehmen", über seine spröden Lippen kam.
"Wer?"
"Marroc", sagte Merry düster und seine Miene verfinsterte sich.
Esmeralda blickte zu ihrem Sohn, dann zu Frodo, der zaghaft nickte. Unwillkürlich ballten sich ihre Hände zu Fäusten, doch ließ sie sich ihre Wut nicht anmerken. Erst musste sie dafür sorgen, dass es Frodo besser ging, anschließend konnte sie sich Marrocs annehmen.



~*~*~



Inzwischen war es später Abend geworden. Esmeralda hatte Merry zu seinem Vater geschickt, während sie bei Frodo geblieben war. Sie war den ganzen Nachmittag bei ihm gewesen, hatte darauf geachtet, dass er genügend Tee trank und sein Gesicht immer wieder mit einem kühlen Tuch betupft. Im Augenblick schien es ihm ein wenig besser zu gehen, auch wenn sie betrübt feststellen musste, dass er nicht ein einziges Wort gesprochen hatte, seit Merry ihn gefunden hatte. Auch das Bild seiner Eltern hielt er noch immer krampfhaft in den Händen, als fürchte er, es könnte ihm genommen werden.
Sanft strich sie mit dem Handrücken über die Wange des Jungen. Erschrocken hätte sie ihre Hand beinahe wieder zurückgezogen, als Frodo vor Schreck über die plötzliche Berührung zusammenzuckte.
"Sh", flüsterte sie beruhigend und Frodo schloss einen Moment die Augen, ehe er sie geradewegs ansah.
Esmeralda hatte das Gefühl, er wolle ihr etwas sagen, doch kein Wort verließ seine Lippen. Lange sah sie in seine traurigen, blauen Augen, bis ihre Aufmerksamkeit von neuem auf das Bild in seinen Händen gelenkt wurde. Augenblicklich entzog er es ihrem Blick, während seine Augen sie forschend musterten.
"Ich will es dir nicht wegnehmen", sagte sie und senkte einen Augenblick den Kopf. "Es ist dein Bild und niemand hat das Recht, es dir zu nehmen."
Frodo rührte sich nicht, sah sie weiterhin starr an.
"Dürfte ich es mir ansehen?", fragte sie, ohne viel Hoffnung.
Er erschien ihr plötzlich wie ein kleines Kind, dem sein liebstes Spielzeug genommen worden war und nun, da er es wieder hatte, wollte er es mit niemandem mehr teilen. Einerseits erschien ihr sein Verhalten albern, andererseits jedoch, konnte sie ihn verstehen. Alles, was ihm von seinen Eltern geblieben war, war dieses Bild und heute hätte er es beinahe verloren. Marroc würde diese Tat noch bereuen.

Frodo hatte den Blick noch immer nicht von seiner Tante genommen, als er ihr schließlich erlaubte, sein Bild anzusehen. Lange Zeit saß sie stumm neben ihm, betrachtete die Abbildungen ebenso gedankenverloren, wie Frodo, bis sich schließlich ein Lächeln auf ihren Lippen zeigte.
"Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als das Bild entstanden ist."
"Ich war damals acht", entgegnete Frodo leise.
Sie lächelte. Es tat gut, seine Stimme wieder zu hören. "Ja, acht Jahre alt und sehr viel aufgeweckter, als es auf diesem Bild den Anschein hat."
Frodo runzelte bei diesen Worten die Stirn, versuchte, sich zurückzuerinnern, doch so sehr er es auch versuchte, es klappte nicht.
"Es war ein warmer Sommertag", begann Esmeralda zu erzählen. "Die Vögel zwitscherten und die Sonne lachte vom Himmel. Du hattest nichts Besseres zu tun, als dich mit Viola zu streiten, während Merry dir den ganzen Tag hinterher tapste. Rufus Hornbläser war an jenem Tag zum Tee gekommen. Er war schon sehr alt, doch seine Hände wussten Pinsel und Stift noch genauso gut zu führen, wie in seinen jungen Jahren. Wusstest du, dass es seine Idee gewesen ist, das Bild zu malen?"
Frodo schüttelte den Kopf.
"Der Kuchen hat dich und Viola schließlich zum Tisch gelockt. Du saßest auf dem Schoß deiner Mutter, da auf der Bank zu wenig Platz war. Rufus hat euch lange lächelnd angesehen. Er hatte zu jener Zeit schon lange nicht mehr gemalt und keiner hatte geglaubt, er würde jemals wieder damit beginnen. Umso überraschter waren wir dann, als er meinte, wenn du und Primula ihm Modell stehen würdet, würde er ein letztes Mal einen Pinsel, oder besser gesagt, einen Kohlestift zur Hand nehmen. So geschah es dann auch. Deine Mutter ließ sich dabei helfen eine Bank vor das Blumenbeet zu schieben und machte es sich darauf gemütlich. Währendessen hatte dein Vater Mühe, dich wieder zu finden, denn du warst in der Zwischenzeit mit Merry, Nelke, Minto und Viola verschwunden. Selbst als er dich dann gefunden hatte, warst du gar nicht begeistert, so lange still sitzen zu müssen, hast dich ständig beklagt und wolltest unbedingt wieder zu den anderen."
Frodo hatte gedankenverloren zu seiner Tante aufgesehen, während ihre Worte jenen Tag wieder in sein Gedächtnis zurückriefen. Nun glitt sein Blick wieder auf das Bild in seinen Händen.



~*~*~



"Du schummelst!" brüllte Frodo und baute sich vor Nelke auf.
"Gar nicht wahr!" fuhr sie ihn an, stemmte die Hände in die Hüften und stellte sich auf die Zehenspitzen, um größer zu sein als er.
"Du hast geblinzelt! Ich habe es genau gesehen!" beharrte er.
"Warum beobachtest du mich eigentlich?", wollte sie wissen. "Du solltest dich versteckten!"
Frodo grinste siegreich. "Dann gibst du es also zu?"
"Gar nichts gebe ich zu!" sagte sie stur und wandte sich von ihm ab.
"Frodo, dein Vater ruft nach dir", ließ Merry ihn wissen, der etwas abseits stand und sah, wie Drogo zu ihnen heraufkam.
Frodo, der neben Nelke unter der großen Eiche stand, wandte sich um und blickte fragend zu seinem Vater, der hinter Merry aufgetaucht war.
"Rufus will uns malen", erklärte er knapp. "Deine Freunde werden eine Weile auf dich verzichten müssen."
Frodo runzelte die Stirn. "Wie lange?"
"Ich weiß es nicht, aber je früher wir anfangen, desto früher bist du zurück."
"Aber ich…", begann Frodo, doch sein Vater schüttelte den Kopf.
"Du würdest deiner Mutter eine große Freude machen."
Missmutig blickte Frodo zu ihm auf. "Kann ich ihr die nicht auch machen, wenn es regnet?"
Drogo lachte, schüttelte aber den Kopf und wuschelte seinem Sohn durch die Haare. Grummelnd folgte Frodo seinem Vater, setzte sich neben seine Mutter auf die Bank und lehnte den Kopf an ihre Schulter, als sie einen Arm um ihn legte. Sein Vater setzte sich neben ihn, legte einen Arm um seine Frau und grinste auf seinen Sohn hinab.
Rufus hatte sich inzwischen hinter einem kleinen Gestell verkrochen, auf dem er eine kleine Leinwand platziert hatte.
Er strahlte über das ganze Gesicht. "Das wird ein wundervolles Bild werden."
Sogleich griff er nach dem Kohlestift und begann zu malen.
Frodo schielte zu seiner Mutter hinauf, die ihm erklärt hatte, dass er für einige Zeit ruhig sitzen bleiben müsse.
"Wie lange werde ich mich nicht bewegen dürfen?"
"Bis Rufus es sagt", antwortete sie.
Er runzelte die Stirn. "Und wann wird das sein?"
"Ich weiß es nicht, mein Kleiner", sie lächelte leise und strich ihm über den Arm.
"Du hast dich bewegt!" rief er aus.
Primula erstarrte in der Bewegung.
Er grinste. "Heißt das, ich darf mich auch bewegen?"
"Nur wenn es unbedingt sein muss", erklärte sie.
"Zum Beispiel dann, wenn mein Fuß einschläft?", wollte er wissen.
"Dann schon, aber es wäre besser, wenn dein Fuß nicht einschlafen würde", ließ Primula ihn wissen.
"Was, wenn er schon eingeschlafen ist?"
"Das ist er aber nicht, oder etwa doch?", Primula schielte fragend zu ihrem Sohn.
"Nein", sagte er knapp, "Aber was wäre wenn?"
Drogo schaltete sich in das Gespräch ein. "Ich denke, das überlegen wir uns, wenn es soweit ist."
Frodo seufzte, ließ seinen Blick zu der großen Eiche wandern, wo er Merry, Madoc und den anderen beim Spielen zusah.
"Wann wird Rufus fertig sein?", fragte er jammernd.
Primula lächelte, schüttelte kaum merklich den Kopf, als sie ihn leicht in die Seite zwickte.
Frodo zuckte zusammen.
"Du sollst dich nicht bewegen!" ließ er seine Mutter wissen.
"Ich bewege mich nicht", flüsterte sie und zwickte ihn erneut.
Frodo zuckte kichernd zusammen. "Mama! Du sollst…", er schreckte erneut zusammen. "Hör auf damit! Du musst ruhig sitzen bleiben."
Drogo lachte leise. "Sie sitzt ruhig, im Gegensatz zu einem ganz anderen jungen Hobbit."
"Aber das ist ihre Schuld!" meinte Frodo trotzig, konnte sich aber ein Kichern nicht verkneifen, als Primula ihn erneut kniff.
Kaum hatte er sich wieder beruhigt, und seine Mutter aufgehört, ihn zu kitzeln, seufzte er leise: "Wird Rufus bald fertig sein?"



~*~*~



Frodo schluckte schwer, als Esmeraldas Worte ihm die Bilder jenes Tages wieder in Erinnerung riefen. Wenn er damals gewusst hätte, wie viel ihm dieses Bild eines Tages bedeuten würde, hätte er sich von Anfang an ruhig verhalten. Rufus hätte den ganzen Nachmittag daran arbeiten können, es hätte ihm nichts ausgemacht.
Erschrocken wich er zurück, als er Esmeraldas Hand auf seiner Wange spürte. Sie hielt einen Augenblick in ihrer Bewegung inne, blickte forschend in die feuchten Augen Frodos, legte dann ihren Arm um seine Schultern. Seine Stirn hatte sich in Falten gelegt, während sein Blick fragend auf ihr ruhte.
Er war froh um die Erinnerung, die sie ihm zurückgegeben hatte und doch stimmte es ihn traurig. Ohne zu zögern würde er das Bild zurückgeben, könnte er dafür seine Eltern wieder haben.
Traurig blickte er auf das Bild hinab, sah in die Augen des kleinen Jungen, der den Kopf an die Schulter seiner Mutter gelehnt hatte, während sein Vater einen Arm um Mutter und Kind gelegt hatte.
Er spürte Esmeraldas Hand auf seiner Schulter. Wie gerne wäre er wieder der kleine Junge auf dem Bild, der den Kopf an die Schulter seiner Mutter lehnte.
Er könnte den Kopf an Esmeraldas Schulter lehnen, aber sie war nicht seine Mutter und dennoch war sie nun da und kümmerte sich um ihn. Einige Augenblicke zögerte er, doch dann ließ er seinen Körper langsam zur Seite sinken, bis sein Kopf auf ihrer Schulter ruhte. Ihre Hand fühlte sich angenehm kühl an, auf seiner noch immer erhitzten Stirn. Es war nicht dasselbe, doch es genügte, um sich besser, um sich getröstet zu fühlen. Erleichtert schloss er die Augen.



~*~*~



Drei Tage darauf saß Frodo an seinem Schreibtisch. Das einzige Licht, das den Raum erhellte, kam von einer Kerze, die neben ihm stand und schon beinahe herunter gebrannt war. Das Bild seiner Eltern hatte er behutsam auf sein Nachtkästchen gelegt, wo es nun darauf wartete, einen neuen Rahmen zu erhalten. Frodo wandte den Blick davon ab, tauchte die Feder in die Tinte und begann in sein Tagebuch zu schreiben.



Marroc wird es nicht mehr in die Finger bekommen können, dafür werde ich sorgen. Saradoc und Esmeralda haben angewiesen, dass er einen neuen Rahmen machen soll, doch ich will ihn nicht. Nichts, was aus seinen Händen stammt, soll ihr Bild beschmutzen. Ich werde ihn selber machen und all die Liebe, die sie mir gegeben haben, in meine Arbeit stecken.
Das Bild ist alles, was mir von ihnen geblieben ist, das Bild und die Erinnerung.
Erinnerungen… sie sind etwas Wundervolles und doch sind sie schmerzhaft, denn es kann nie wieder so sein, wie in der Erinnerung. Nicht für mich.
Ich vermisse meine Eltern. Manchmal vermisse ich sie so sehr, dass ich glaube, zerfressen zu werden von einer Sehnsucht, die immer da sein wird und doch niemals erfüllt werden kann. Ein Hunger, der nicht gestillt werden kann. Eine Wunde, die nie gänzlich verheilen wird.
Doch Wunden heilen, ganz gleich wie tief sie sind, auch wenn manchmal Narben bleiben. Esmeralda will diese Narben so gering wie möglich halten. Ich brauchte lange, um das zu begreifen, doch nun weiß ich es. Sie sorgt sich um mich, auch wenn sie das nicht immer zeigt. Die letzten Tage war sie ständig an meiner Seite, hat mich getröstet und mich von meinen Schmerzen abgelenkt. Sie war für mich da und ich glaube, sie wird auch in Zukunft immer für mich da sein. Warum aber, war sie es bisher nicht? Oder, hat sie sich schon immer so um mich gesorgt und ich habe es nur nicht gesehen?
Das Wichtigste aber ist, dass sie jetzt hier ist und das genügt mir. Es beruhigt, dies zu wissen.



Frodo runzelte die Stirn, als er das Geschriebene noch einmal durchlas. Manchmal wusste er selbst nicht mehr, was er schrieb, nachdem er die Feder zur Hand genommen hatte. Die Worte schienen von seinen Gedanken selbst, direkt auf das Papier zu springen. Und doch waren es oft Gedanken, die er noch nicht einmal gedacht hatte, ehe er sie in seinem Tagebuch wieder fand. Eine Tatsache, die ihn gleichermaßen verwirrte, wie sie ihn beruhigte.
Mit einem leisen Zischen erlosch die Kerze. Erschrocken hob Frodo den Kopf. Sie war nun vollends heruntergebrannt und er würde sich eine neue holen müssen, doch nicht mehr heute. Es war an der Zeit, sich wieder hinzulegen, zu schlafen. Mit einem leisen Seufzen steckte er die Feder in die Halterung, stand dann auf und ließ sich auf sein Bett sinken. Ein angenehmer Duft ging von seinem Kissen aus. Esmeralda hatte das Bett erst am Abend frisch bezogen. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, bei dem Gedanken an Merrys Mutter. Er war nicht mehr ganz allein und vielleicht war er das auch nie gewesen.





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