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Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Kapitel 35: Leichter, als man denkt



Zwei Wochen vergingen, ohne dass Merry und Frodo ein Wort miteinander wechselten, es selbst vermieden, dem anderen über den Weg zu laufen. Für Frodo waren es zwei harte Wochen gewesen. Oft hatte er nicht gewusst, was er mit sich selbst und der vielen Zeit anfangen sollte, die ihm gegeben war. Viele Stunden hatte er in der Bibliothek verbracht und ein Buch nach dem anderen verschlungen.
Er hatte sich vermehrt um Merimas gekümmert. Dabei hatte er auch auf Berilac, den Sohn von Saradocs Bruder Merimac, und auf Gormadoc Bolger, den jüngsten Sohn seiner Cousine Drida, aufgepasst. Die drei jungen Hobbits verstanden sich prächtig und Frodo musste bald nur noch darauf achten, dass sie nichts anstellten. Spielgefährten brauchten sie keinen mehr.
Er war einsam und das wurde ihm nun, ohne Merry, nur noch schmerzlicher bewusst. Er schrieb viel in sein Tagebuch und verkroch sich oft stundenlang in seinem Zimmer, nicht selten, um heimlich zu weinen, wenn Einsamkeit, Angst oder Verzweiflung ihn übermannten.
Einmal hatte Frodo versucht, mit Merry zu reden und sich wieder mit ihm zu versöhnen, doch der Versuch scheiterte und die Unterhaltung endete in einer weiteren Auseinandersetzung. Bei ihrem letzten Streit hatte er seinen Vetter sehr gekränkt und Merry war nicht gewillt, ihm das so schnell zu verzeihen, stattdessen bezeichnete er ihn erneut als selbstsüchtig, ohne zu wissen, dass er damit einen wunden Punkt bei Frodo traf.
Saradoc war eines Abends mit besorgter Miene zu ihm gekommen und hatte gefragt, was mit ihm los sei. Frodo hatte geantwortet, dass es ihm gut ginge, doch der Herr von Bockland hatte nicht locker gelassen. Er hatte berichtet, dass auch Merry in letzter Zeit betrübt war und wollte wissen, um was es denn bei dem Streit gegangen wäre, denn er war sich sicher, dass sie gestritten haben mussten, sonst würden sie einander nicht stur aus dem Weg gehen. Frodo hatte nichts darauf geantwortet. Wenn Merry darüber schwieg, würde er das auch tun. Auf Saradocs Wunsch hin, wenigstens ein bisschen Zeit mit den anderen Kindern zu verbringen, hatte er den Kopf geschüttelt und gemeint, er wäre lieber alleine. Damit hatte er nicht Unrecht, zumindest wenn es um die Kinder in seinem Alter ging. Die meisten mochten ihn nicht, meinten er wäre seltsam und gingen ihm aus dem Weg. Die anderen mochte er nicht. Es waren Kinder wie Marroc, oder solche, die sich mit ihm verstanden. Diesen ging er aus dem Weg. Der Vorfall an jenem Tag vor zwei Wochen, hatte ihn wieder vorsichtiger werden lassen.
Saradoc war schließlich seufzend gegangen und Frodo hatte geglaubt, er hätte es hinter sich gebracht, doch von da an war der Herr jeden Abend in sein Zimmer gekommen und jeden Abend hatte Frodo ihm dieselben Antworten gegeben. Er wollte nicht mit ihm sprechen.
Hanna hatte inzwischen ihr zweites Kind zur Welt gebracht. Ein Mädchen. Ihr Name war Minze. Frodo hatte sie nur einmal gesehen, bei einem kurzen Besuch in Hannas Zimmer. Esmeralda hatte ihm gesagt, dass sowohl Minze, als auch Hanna nun viel Ruhe bräuchten und Marmadas achtete sehr darauf, dass Frau und Tochter diese Ruhe auch erhielten.

Der Frühling hatte Einzug in das Auenland gehalten. Es war ein Frühling, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Die dichte Wolkendecke, die die Sonne über die Wintermonate ausgesperrt hatte, hatte sich verzogen. Die Luft war warm und duftete nach Blumen. Die Tulpen hatten bereits zu blühen begonnen und wunderschöne Orchideen zierten die Blumenbeete des Brandyschlosses, die Rosamunde mit Liebe pflegte. Immer häufiger fand man die Gärtnerin mit schmutziger Schürze und hochgekrempelter Bluse in den Beeten vor, wo sie die Erde umgrub, oder mit Hühnermist, den sie von einem Bauer in Bockenburg erhalten hatte, den Boden düngte. Bäume und Sträucher hatten begonnen, ihre Knospen auszubilden, würden bald in voller Blüte stehen und die Luft mit ihrem Duft erfüllen.
Frodo genoss das angenehme Wetter, saß noch häufiger unter der großen Eiche, als zuvor. So auch an diesem Tag. Er hatte sich ein Buch aus der Bibliothek geholt und lehnte nun, völlig vertieft in die Geschichte, am Baumstamm.
Überrascht sah er sich um, als ihm das Buch mit einem Ruck aus den Händen gerissen wurde.
"Du liest viel in letzter Zeit", gab Nelke zu bedenken, die das Buch in den Händen hielt und es interessiert betrachtete. Viola und Rubinie standen neben ihr und grinsten auf ihn herab. Frodo sprang sofort auf und entriss ihr das Buch wieder.
"Woher willst du das wissen?", fragte er.
Als Nelke mit den Schultern zuckte, zog Frodo eine Augenbraue hoch und ging schließlich davon. Mädchen, was für eine Plage!
"Bücherwurm!" rief ihm Rubinie kichernd hinterher.
Frodo machte auf dem Absatz kehrt und stürmte mit einem Angst einflößenden Aufschrei die wenigen Schritte, die er sich bereits von ihnen entfernt hatte, zurück. Die Mädchen kreischten und rannten in alle Richtungen davon. Frodo grinste in sich hinein. Mädchen, so leicht in Angst und Schrecken zu versetzen! Den Platz unter dem Baum hatte er vorerst zurückerobert, doch lange wollte er ohnehin nicht mehr bleiben, denn bald würde die Sonne untergehen.



~*~*~



Nach dem Abendessen war Frodo in sein Zimmer gegangen. Er und Merry hatten gelegentliche Blicke ausgetauscht, doch wann immer ihnen das aufgefallen war, waren sie ihnen ausgewichen. Frodo fragte sich, wie lange das wohl so weiter gehen würde, als es an der Tür klopfte und Saradoc eintrat. Er seufzte und legte das Buch wieder hin, das er gerade mit sich ins Bett hatte nehmen wollen. Saradoc griff danach, sah es an.
"Du liest viel in letzter Zeit."

Hatte er das heute nicht schon einmal gehört? War das der klägliche Versuch, dieselbe Unterhaltung in Gange zu bringen, die sie nun schon seit über einer Woche jeden Abend führten?
Frodo zuckte mit den Schultern, setzte sich auf sein Bett und schaute zu Boden, hoffend, dass Saradoc wieder gehen würde. Doch er ging nicht. Der Herr von Bockland setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch, beunruhigte dabei die Flamme der Kerze auf dem Nachttisch, und stellte ihm dieselben Fragen, wie jeden Abend und wieder gab Frodo dieselben Antworten.
Saradoc seufzte und ließ resignierend den Kopf hängen. Er fasste sich mit den Fingern zwischen die Augen, ehe der den Jungen eingehend betrachtete.
"Wenn du mir immer dasselbe antwortest, kommen wir nicht weiter, Frodo."
"Dann stell andere Fragen", gab Frodo kleinlaut zurück, sah den Herrn dabei nicht an, sondern ließ den Blick auf dem Bild seiner Eltern ruhen.
"Und was sollte ich deiner Meinung nach fragen?", wollte Saradoc mit sanfter Stimme wissen, in der Hoffnung, so zu jenem Jungen durchzudringen, der sich immer mehr vor ihm verschloss.
Frodo zuckte mit den Schultern. "Gar nichts."
Das Licht der Kerze tauchte das junge Gesicht in einen sanften Feuerschein und Saradoc legte den Kopf schief, um es eingehend zu betrachten. Er erkannte die Unzufriedenheit, die Anspannung und doch wollte Frodo ihn nicht an seinen Sorgen teilhaben lassen, schien beinahe verärgert, dass er abends zu ihm kam. Auf Esmeralda reagierte er nicht anders. In den vergangenen Wochen war der Junge immer schweigsamer geworden, hatte sich immer mehr zurückgezogen. Der Zwist zwischen Frodo und seinem Sohn war schlimmer, als jeder andere, den er bisher erlebt hatte, denn nie zuvor waren die Vettern so sehr entzweit gewesen. Saradoc selbst hätte es nicht für möglich gehalten, dass sich die beiden so uneins sein konnten und er hätte alles dafür gegeben, die Kinder wieder vereint zu sehen, doch ganz gleich, zu welchem der beiden er sprach, sie waren nicht gewillt, ihm etwas darüber zu erzählen. Frodo war jedoch noch verbissener, als sein Sohn, denn während Merry wenigstens zu ihm sprach, war Frodo nicht einmal gewillt, ihm vernünftige Antworten zu geben, sondern zuckte nur mit den Schultern oder erklärte ihm, dass dies seine Sache wäre und ihn das nichts anginge.
"Warum willst du nicht mit mir reden, Frodo?"
Frodo sah ihm einen Augenblick in die Augen, wich seinem Blick dann aber aus und zuckte erneut mit den Schultern.
Saradoc schüttelte den Kopf. Es hatte keinen Sinn. Frodo würde niemals mit ihm sprechen. Er konnte ebenso gut ein Gespräch mit einer Mauer führen und würde selbst dann noch mehr in Erfahrung bringen, als bei diesem Jungen. Vor drei Jahren hatte er sich seiner angenommen, ihn lieb gewonnen, doch wie sollte er sich um ihn kümmern, wenn Frodo nicht gewillt war, sich ihm zu öffnen und sich stattdessen immer mehr von ihm zurückzog.
Saradoc seufzte leise, als er dem Jungen eine gute Nacht wünschte und schließlich das Zimmer verließ.

Frodo atmete erleichtert auf, fühlte sich dennoch nicht besser. Gespräche mit Saradoc mochte er nicht. Er konnte nicht genau sagen, weshalb, doch er mochte sie nicht. Ob das ein Grund war, weshalb er den Fragen auswich? Er wusste, dass er Saradoc belog, wenn er sagte, dass es ihm gut ging. Er wollte ihn nicht belügen, doch er tat es. Es war wesentlich einfacher, zu sagen, dass es ihm gut ging, als Saradoc die Wahrheit zu erzählen. Hatte er denn nicht schon genug Gewissensbisse? Waren nicht auch sie ein Grund dafür, dass es ihm eben nicht gut ging? Sollte er das schlechte Gefühl auch noch verstärken, indem er dem Herrn davon berichtete, ihn dadurch vielleicht ebenso verärgerte, wie er Merry verärgert hatte?
Frodo seufzte und ließ den Kopf auf das Kissen sinken.



~*~*~



Der nächste Morgen war verlaufen, wie jeder andere in den vergangen zwei Wochen auch. Nach dem Mittagessen geschah jedoch etwas, womit Frodo nicht gerechnet hatte.
Er saß in einem Sessel im Wohnzimmer, war gerade in die letzte Seite seines Buches vertieft, als Merry ihm auf die Schulter tippte. Überrascht sah er auf, Hoffnung in den blauen Augen, denn er glaubte, Merry würde sich bei ihm entschuldigen und sie würden sich wieder vertragen, doch Merrys Ausdruck ließ ihn diesen Gedanken verwerfen. In den Augen seines Vetters konnte er sehen, dass dieser nicht freiwillig hier war. Merry sagte jedoch nichts und so fragte Frodo, was er im Blick seines Vetters zu lesen glaubte.
"Hat Saradoc dich geschickt?"
Merry nickte. Frodos Hoffnungen schwanden. Merry würde sich also nicht dafür entschuldigen, dass er ihn selbstsüchtig genannt hatte. Er war nicht selbstsüchtig und das würde er sich von niemandem vorwerfen lassen, auch nicht von seinem Vetter.
"Wir machen einen Familienausflug, ein Picknick", sagte Merry knapp. "Er sagt, ich solle fragen, ob du uns begleitest. Kommst du mit?"
Ein Picknick wäre wundervoll, doch die Kälte in Merrys Stimme ließ ihn anders denken.
"Nein", antwortete er trocken.
"Warum nicht?", fragte Merry, doch es klang nicht danach, als würde ihn die Antwort wirklich interessieren. Frodo war sich sicher, dass er das nur tat, weil Saradoc es von ihm verlangt hatte.
"Erstens habe ich keine Lust...", seine Stimme klang noch immer sachlich und uninteressiert.
Lügner! Schon beinahe so überzeugend wie Marroc!
"... und zweitens..."
Ich bin nicht so selbstsüchtig, wie du vielleicht glaubst. Ich mache euch euren Familienausflug nicht zunichte. Ich bleibe zu Hause, gehe in mein Zimmer, dort wo ich hingehöre. Alleine. Ich bin nicht selbstsüchtig. Ich brauche dich und deine Familie nicht, nicht wenn du so über mich denkst.
Frodos verbitterter Gesichtsausdruck entspannte sich, nachdem er einmal tief Luft holte.
"... einfach nur nein", schloss er.
Merry nickte und, ohne ein Wort zu sagen, stürmte er davon.

Frodo ließ sich tiefer in den Sessel sinken. Seine Gedanken kreisten.
Lügner! Du bist ein Lügner! Du weißt genau, dass du sie brauchst. Sie und vor allem Merry. Du hast es in den letzten Wochen selbst gesehen. Warum dieser Streit? Er ist dumm und führt zu nichts, außer, dass du dich schlecht fühlst. Du, und Merry vermutlich auch.
Aber warum sagt er so etwas? Warum lässt auch er mich alleine? Ist es, weil ich so lange weg war? Habe ich mich wirklich verändert, wie er sagte? War ich früher anders? Ich darf ihn nicht verlieren! Ich will nicht mit ihm streiten! Ich brauche ihn doch!

Mit einem Schlag wurde ihm das bewusst und ehe er wusste, was er tat, hatte er das Buch fallen gelassen, war aus dem Sessel gesprungen und stürmte aus dem Zimmer hinaus, den Gang entlang. Frodo rannte aus der Höhle, in der Hoffnung, Merry noch irgendwo anzutreffen, doch sein Vetter war fort. Er hatte zu lange gewartet.
Betrübt und mit gesenktem Kopf stolperte Frodo in die Höhle zurück, wobei er beinahe mit seiner Großmutter zusammengestoßen wäre. Besorgt beugte sich Mirabella zu ihm herab, legte einen Finger unter sein Kinn, sodass sie in seine traurigen Augen sehen konnte. Tröstend strich sie ihm durch die Haare, ehe sie ihn bat, mit ihr in die Küche zu kommen. Frodo wusste nicht, was er sonst hätte machen sollen, also folgte er ihr schlurfenden Schrittes.

Mirabella setzte sich an den Tisch und ergriff die Hand ihres Enkels, der mit gesenktem Kopf vor ihr stehen blieb. Zärtlich ließ sie ihren Daumen über die weiche Haut seiner Finger streichen, sah ihn lange an.
"Was ist los, Frodo?", fragte sie besorgt.
Frodo schüttelte den Kopf. "Nichts."
Sie seufzte, ließ ihre Finger einmal durch seine dunklen Locken kämmen. Er würde nicht sprechen, dennoch wollte sie ihn im Auge behalten. Zuviel war in den letzten Wochen heimlich geschehen, wie sie an seinem Verhalten erkennen konnte.
"Ich wollte für heute Abend Kümmelkuchen backen. Hättest du Lust, mir dabei behilflich zu sein? Ich kann jede helfende Hand gebrauchen", meinte sie und hoffte, Frodo würde einwilligen.

Das tat er, wenn auch nur mit einem schwachen Nicken und ohne sie anzusehen. Nichtsdestotrotz machte Mirabella sich sogleich daran, ihm zu erklären, wie er den Speck zu schneiden hatte. Sie selbst wollte die Zwiebeln zerkleinern. Frodo stand stumm neben ihr, darum bemüht, den Speck in kleine Würfel zu schneiden. Mirabella hatte jedoch bald den Eindruck, dass er mit den Gedanken nicht bei der Sache war, denn sie musste ihn des Öfteren ermahnen, auf seine Finger Acht zu geben. Immer wieder ließ sie ihre Augen zu ihrem Enkel wandern, während ihre Finger geschickt die Zwiebeln zerkleinerten.
Mit zunehmendem Alter war sie immer seltener in der Küche tätig gewesen, doch hatte sie schon immer gerne gekocht und war nicht selten den Küchenmädchen zur Hand gegangen, hatte ihnen nützliche Ratschläge gegeben und ihnen den einen oder anderen Trick verraten.
Wie alle jungen Mädchen, war auch sie in der Kochkunst unterrichtet worden, auch wenn ihr selten die Ehre zu Teil geworden war, für ihren Gatten kochen zu dürfen. Als einstige Herrin von Bockland hatte sie andere Pflichten zu erfüllen gehabt und die Mahlzeiten, die es zuzubereiten galt, waren nicht nur für ihren Ehemann sondern für alle Bewohner des Brandyschlosses und derer waren es schon immer weit über hundert gewesen. Nichtsdestotrotz hatte Mirabella beizeiten gerne in der Küche ausgeholfen.
Ursprünglich hatte sie vorgehabt, einige der jungen Mädchen zu sich zu holen, um mit ihnen zu kochen, doch als sie Frodo gesehen hatte, war ihr klar geworden, dass sie ihn an diesem Nachmittag nicht alleine lassen durfte und so hatte sie sich früher als geplant an die Arbeit gemacht, denn zu zweit würden sie wesentlich langsamer vorankommen. Sie wollte keinen anderen dazu holen, denn sie hoffte, Frodo würde sich ihr öffnen, wenn sie alleine waren, nahm dafür sogar in Kauf, sehr viel mehr Arbeit auf sich zu nehmen, als sie eigentlich musste.
Wieder wanderte ihr Blick zu ihrem Enkel, als sie plötzlich Tränen in dessen Augen bemerkte. Rasch legte sie das Messer weg, wischte sich die Hände an der Schürze sauber und beugte sich zu ihm hinunter.
"Frodo?", fragte sie besorgt und legte die Hände auf seine Schultern, als auch er das Messer sinken ließ. "Was ist mit dir?"
"Es ist nichts", antwortete Frodo schnell und wischte die Tränen weg. "Die Zwiebeln brennen in den Augen."
Mirabella sah ihn lange an. Sie hatte in ihrem Leben schon mit vielen Kindern zu tun gehabt, hatte nicht wenigen selbst auf diese Welt geholfen. Frodo war ihr jüngster Enkelsohn und sie selbst war ihrer Tochter bei seiner Geburt zur Seite gestanden. Primula hatte viele Jahre vergebens auf ein Kind gehofft, hatte nicht mehr daran geglaubt, jemals Mutter zu werden, bis Frodo ihr zu diesem Glück verholfen hatte. Er war ihr ganzer Stolz gewesen, hatte ihre Familie vollkommen werden lassen. Frodo war ein Kind gewesen, wie Mirabella kein zweites gekannt hatte. Vom Tage seiner Geburt an, schien ein unsichtbares Leuchten, dem Licht der Sonne gleich, von ihm auszugehen und der aufgeweckte Junge mit den strahlenden Augen und dem fröhlichen, zahnlosen Lächeln im Gesicht, hatte nicht nur die Liebe seiner Eltern für sich gewonnen, sondern die Herzen aller berührt. Primula hatte das gespürt, hatte oft mit ihr darüber gesprochen. Manchmal, so hatte sie gesagt, fände sie es beunruhigend, dass nur sie zu sehen schien, was von ihrem Sohn ausging. Mirabella hatte ihre Tochter jedoch beruhigen können, denn beizeiten hatte auch sie gesehen, gespürt, wovon ihre Tochter gesprochen hatte und, hätte es sie nicht mit einer tiefen Liebe und Wärme erfüllt, hätte sie es gefürchtet. Mit den Jahren hatte Mirabella jedoch nicht mehr darauf geachtet, auch wenn Primula manchmal noch immer davon gesprochen hatte. Sie hatte es bald als die Liebe einer Mutter zu ihrem einzigen Sohn abgetan und erst lange nach Primulas Tod hatte sie sich dessen wieder erinnert, denn es schien ihr, dass das Leuchten in Frodos Augen nun ein anderes war und selbst dieses schien ihn beizeiten zu verlassen.
Frodo mochte auf die eine oder andere Weise etwas Besonderes sein, doch was immer es war, er hatte es in sich eingeschlossen und ließ niemanden mehr daran teilhaben.

Mirabella schüttelte den Kopf. "Es sind nicht die Zwiebeln. Was ist los?"
"Es sind die Zwiebeln!" beharrte Frodo sturköpfig und wandte den Blick von ihr ab.
"Belüg mich nicht, Frodo! Du wirst mir jetzt sagen, was los ist!"
Frodo hatte sie noch niemals wütend erlebt und fürchtete den scharfen Ton, der in ihrer Stimme mitklang. Beinahe verschreckt sah er ihr in die Augen, ehe er den Blick erneut abwandte. Er schluckte die Tränen, die in ihm aufstiegen, wollte sich wieder seiner Arbeit widmen, doch Mirabella ließ ihn nicht, hielt seine Schultern fest und drehte ihn so zu sich.
"Nein, Frodo", sagte sie ruhig, aber bestimmt. "Erst wirst du mir sagen, was mit dir los ist."
"Ich dachte, ich sollte dir helfen", ließ Frodo sie wissen, sah aber nicht auf.
"Das sollst du auch, sobald du mit mir gesprochen hast."
"Du hast nie gesagt, dass ich reden soll", entgegnete Frodo scharf, wollte sich wieder von ihr abwenden, doch auch jetzt hielt Mirabella ihn fest.
Sie war überrascht über den Ton, den ihr Enkel anschlug. Sie spürte den schnellen Herzschlag, spürte das Beben, das er zu unterdrücken suchte.
"Das habe ich nicht, doch jetzt bitte ich dich darum", sagte sie und sah ihn mit traurigen, besorgten Augen an.
Frodo sah erneut auf und dieses Mal griff sie nach seinem Kinn, sodass er den Blick nicht wieder abwenden konnte. Tränen traten in seine Augen.
"Das kannst du nicht von mir verlangen", rief er plötzlich mit einer Mischung aus Schmerz, Angst und Zorn, ehe er sich aus ihren Armen riss und zur Tür eilte.
Einen Augenblick lang zog er es in Erwägung, davon zu laufen, doch er wusste, dass er diesem Gespräch nicht entgehen konnte. Er konnte es nur verzögern. Wieder wischte er sich die Tränen aus den Augen, zog die Nase hoch, ehe er sich trotzig zu ihr umwandte.
Ihr weißes Haar, das sie zu einem Knoten hochgesteckt hatte, schimmerte golden im Licht des Feuers und der Lampen und ihre dunklen Augen musterten ihn eingehend, als sie sich schließlich erhob, sich auf einen Stuhl setzte und ihn zu sich winkte. Widerwillig ließ Frodo sich neben ihr auf einen Stuhl sinken und starrte ins Leere. Er wollte mit Merry sprechen, nicht mit ihr.

"Warum bist du traurig, Frodo?", fragte sie mit sanfter Stimme, wobei sie, wie schon zuvor, seine Hand ergriffen hatte und zärtlich über seine Finger strich.
Lange Zeit antwortete er nicht, sah sie nicht einmal an, doch ließ er ihre Hand in der ihren ruhen. Seine Großmutter hatte das schon früher getan, hatte ihn sein Leben lang auf diese Weise getröstet, wenn er mit Tränen in den Augen zu ihr gekommen war, um sie wissen zu lassen, wie gemein sein drei Jahre älterer Vetter Marmadoc war, der damals immer der Ansicht gewesen war, das alles ihm gehörte, was sich in seiner Reichweite befand, ganz gleich, ob jener Gegenstand auf dem Boden gelegen, oder sich in Frodos Händen befunden hatte.
Als er schließlich beinahe zaghaft Merrys Namen flüsterte, nickte Mirabella wissend. Jeder im Brandyschloss wusste inzwischen vom Zwist der Vettern, auch wenn keiner den Grund dafür kannte.
"Worum ging es denn bei dem Streit?"
"Das ist nicht wichtig", erwiderte er knapp und schluckte schwer.
"Wirklich nicht?"
Frodo schüttelte vehement den Kopf.
Seine Finger umschlossen die ihren und Mirabella konnte seine Anspannung deutlich spüren, doch Frodo schien davon nichts zu bemerken, hob nicht einmal den Kopf.
"Warum bist du traurig?", fragte sie noch einmal.
Frodo sah sie mit einem Ausdruck an, als wolle er ihr sagen, dass sie sich wiederholte, doch ihr Anblick ließ einen betrübt überraschten Ausdruck über sein Gesicht huschen und für einen kurzen Augenblick, schien er die Stirn zu runzeln.
Das Mitgefühl in den dunklen Augen Mirabellas, ließ Frodo innehalten. Sie hielt seinen Blick fest und für einen Augenblick glaubte der Junge, nicht in die Augen seiner Großmutter, sondern in die seiner Mutter zu sehen, die von derselben dunklen Farbe waren. Ein Knoten formte sich in seinem Hals. Er schluckte noch einmal, doch es half nichts. Seine Tränen hatten ihn besiegt. Mirabella legte einen Arm um seine Schultern, zog ihn in eine zärtliche Umarmung und Frodo ließ sie gewähren, legte schließlich den Kopf auf ihre Brust und erlaubte sich, getröstet zu werden, während heiße Tränen über seine Wangen liefen und auf ihre Bluse tropften.
"Ich habe zu lange gewartet", brachte er schließlich unter unendlichen Schluchzern hervor. "Ich habe zu lange gewartet und jetzt ist er fort."
Mirabella blutete das Herz, als er schließlich in Tränen ausbrach und zitternd in ihre Arme sank. Sie wusste sofort, von wem er sprach, doch konnte sie kaum glauben, was sie hörte.
"Aber Kind, er kommt doch heute Abend wieder", sagte sie und strich ihm durch die Haare.
Frodo sah zu ihr auf.
"Aber heute Abend, heute Abend...", stammelte er und schnappte verzweifelt nach Luft.
"Heute Abend wirst du ihn um Verzeihung bitten und auch er wird sich bei dir entschuldigen und dann ist alles wieder beim Alten", versicherte sie ihm und wischte ihm mit dem Daumen eine Träne von der Wange.
Frodo sah sie fragend an und seine Unterlippe zitterte, als er gegen weitere Tränen ankämpfte. Er war sich nicht sicher, ob das wirklich so einfach war, wie es sich bei seiner Großmutter anhörte, doch diese nickte ihm aufmunternd zu, sodass Frodo entschied, es zumindest zu versuchen.
Er blieb noch einen Augenblick länger in ihren Armen liegen, bis seine Tränen getrocknet waren. Mirabella hielt ihn fest, wie sie es getan hatte, als er noch ein kleiner Junge gewesen war und Frodo sog den Duft von Kamille in sich ein, denn Mirabella liebte es, ihre Haut mit jener Salbe zu pflegen.

Mirabella lächelte zufrieden, als Frodo sich schließlich wieder erhob und sich daran machte, den Speck weiter zu schneiden. Der Junge war schwierig, sehr schwierig. Er ließ niemanden an sich heran und das bereitete ihr Kummer. Doch zumindest für den Moment, schien sie seine Sorgen gelindert zu haben und das war gut so.



~*~*~



Die Kümmelkuchen waren schon lange im Backofen, als Frodo wieder unter der großen Eiche saß. Zwar war es schon bald Zeit für das Abendessen, doch die Tage waren wieder länger geworden und die Sonne stand noch immer hoch am westlichen Horizont. Erwartungsvoll blickte Frodo in alle Richtungen. Wann würde Merry endlich zurückkehren? Er war aufgeregt und das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er wusste, dass er sich bei seinem Vetter entschuldigen musste, doch er zweifelte daran, dass dies wirklich so leicht war, wie es bei seiner Großmutter geklungen hatte. Er seufzte, als das Wiehern eines Ponys ihn plötzlich hochschrecken ließ.
Er sprang auf die Beine und erblickte Merry, der gerade den schmalen Weg vom Fluss heran geritten kam, dicht gefolgt von Saradoc und Esmeralda, die sich ein Reittier teilten. Mit einer Mischung aus Unbehagen und Aufregung beobachtete er, wie sie zu den Ställen ritten und hineingingen.
Allen Mut zusammennehmend, atmete Frodo einmal tief durch und sprang den Hügel hinunter. Keuchend erreichte er den Stall, spähte vorsichtig hinein. Merry war damit beschäftigt, sein Pony abzusatteln, während er sich mit seinem Vater unterhielt, der sein Reittier in eine der leeren Boxen führte. Esmeralda war bereits in das Brandyschloss zurückgekehrt.
Saradoc bemerkte ihn, nickte ihm zu, ehe er noch ein letztes Wort mit Merry wechselte, um dann den Stall zu verlassen. Frodo sah ihm verwundert hinterher. Wusste Saradoc, was er vorhatte? Er schüttelte den Gedanken ab. Erst musste er mit Merry sprechen, oder er würde den Mut dazu nicht wieder aufbringen, danach konnte er sich über Saradoc Gedanken machen.

Merry hatte ihn noch nicht bemerkt, als er schließlich zaghaft in den Stall trat. Der Duft von Heu, Stroh und Ponys erfüllte die Luft, denn die Ställe für die Schafe, Schweine und Kühen waren von dem der Ponys abgetrennt worden. Unsicher blieb Frodo einige Schritte vor seinem Vetter stehen.
"Merry?", seine Stimme zitterte.
Überrascht blickte der jüngere Hobbit auf, sah ihm in die Augen. Die Kälte, die er noch am Morgen in ihnen hatte erkennen können, war verschwunden. Traurigkeit stand nun in ihnen. Traurigkeit und Angst. Hatte Merry etwa dieselben Sorgen, wie er?
Lange Zeit standen sie einfach nur da und sahen sich an. Frodo wollte etwas sagen, doch seine Stimme versagte. Plötzlich konnte er eine Träne in Merrys Augen glitzern sehen und seine Verwunderung darüber, ließ ihn endlich wieder Worte finden. "Merry, du..."
Weiter kam er nicht, denn Merry stolperte nach vor und fiel ihm um den Hals. Frodo blieb wie versteinert stehen, so überrascht war er. Es fiel ihm gar nicht auf, dass auch ihm Tränen über die Wangen liefen, als er seinen Freund schließlich erleichtert in die Arme schloss.
"Es tut mir Leid", sagten beide gleichzeitig und begannen daraufhin zaghaft zu kichern.
Frodo fiel ein Stein vom Herzen. Seine Großmutter hatte Recht gehabt. Es war so einfach. Weshalb hatte er sich nicht schon viel früher dazu durchgerungen?
Merry meinte noch einmal, dass es ihm Leid täte und begann plötzlich aufzulisten, was er niemals hätte sagen dürfen. Frodo wollte ihn stoppen, doch Merry brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
"Nein, Frodo. Du musst wissen, dass ich nicht glaube, dass du selbstsüchtig bist. Es war nur, dass in diesem Moment...", er stotterte.
Frodo nickte traurig. "Ich weiß. Ich hätte auch nicht so überreagieren dürfen, nur weil du mehr Zeit mit deinem Papa verbringst. Ich war so traurig und wütend, weil mein Papa nicht mehr da ist und ich..."
Frodo holte einmal tief Luft und sah Merry, der einen Arm um ihn gelegt hatte, traurig an.

Wie dumm kam ihnen ihr Streit in diesem Moment vor. Sie fragten sich, wie es jemals dazu hatte kommen können und weshalb sie sich nicht schon früher entschuldigt hatten, wo es doch so einfach war. Beide waren sich sicher, dass so etwas nie wieder geschehen würde.



~*~*~



Als sie schließlich alle Probleme aus der Welt geschafft hatten, gingen sie gemeinsam zurück in die Höhle. Frodo berichtete stolz, dass er bei der Zubereitung des Kümmelkuchens behilflich gewesen war. Merry kicherte, woraufhin Frodo ihn entgeistert ansah.
"Probier ihn, und das Lachen wird dir vergehen!" meinte er ernst.
Merry zog eine Augenbraue hoch. "Hast du denn bereits gekostet?"
Frodo schüttelte den Kopf und grinste. "Das sollte ich dringend nachholen!"
Mit einem Lächeln eilte er durch den Gang zum Esszimmer, doch Merry blieb noch einen Augenblick stehen. Frodo stoppte, drehte sich verwundert zu ihm um.
"Merry?", rief er und sah seinen Vetter auffordernd an. "Komm Kuchen essen!"
Merry grinste und stürmte an ihm vorbei an den Tisch, während Frodo ihm lachend hinterher rannte.

Keiner der beiden bemerkte die erleichterten Blicke, die Saradoc, Esmeralda, Mirabella und Gorbadoc einander zuwarfen, als die beiden glücklich vereint an ihre Plätze saßen und beinahe gleichzeitig nach dem Wasserkrug langten.





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