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Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Kapitel 71: Fern des Alltags



Frodo saß auf dem Fußboden des östlichsten Ganges, den Rücken an die Wand gelehnt, die Knie angezogen. Sein Blick ruhte auf Hannas Zimmertür. Gleich nach dem Mittagessen war die junge Mutter in ihrem Zimmer verschwunden, um ihre Töchter zur Ruhe zu betten. Frodo war ihr heimlich gefolgt, nur um sich dann auf den Boden zu setzen, weil er nicht den Mut aufbrachte, an ihre Tür zu klopfen. Er wusste, dass sie im Zimmer verweilen und Handarbeiten erledigen würde, bis ihre Töchter wieder aufwachten. Als er ihr noch gegenüber gewohnt hatte, war er um diese Zeit häufig zu ihr gegangen, doch waren inzwischen zu viele Dinge geschehen, als dass er noch wagte, in ihrer oder ihrer Kinder Nähe zu sein.
Mit einem leisen Seufzen ließ er sich zur Seite sinken, bis sein Kopf an der Wand ruhte. Ihre Stimme drang leise singend an sein Ohr. Es war ein Kinderlied, dessen Melodie Frodo gut kannte und eh er sich versah, hatte er summend mit eingestimmt. Er genoss die Abgeschiedenheit des östlichen Ganges, die Stille und das spärliche Licht der wenigen Wandlampen. Hier war er vor Marroc sicher, konnte außerdem alleine sein. Kein anderer Ort, an den er sich hätte zurückziehen können, war ihm geblieben. In seinem Zimmer konnte er nichts tun, ohne dass Merry ihm über die Schulter sah. Selbst wenn er einmal alleine war, musste er immer damit rechnen, dass sein Vetter hereinkommen würde. In der Bibliothek hatte Saradoc sich ausgebreitet, weil er die Stammbäume auf den neusten Stand bringen wollte und auf dem Heuboden, wohin er ab und an verschwunden war, konnte er nicht mehr, da dort nun Marroc regierte. Ihm war nichts geblieben. Mit seinem Einzug bei Merry hatte Saradoc ihn seiner Zurückgezogenheit beraubt und ihn dadurch noch einsamer werden lassen.
Frodo verstummte, als Hannas Lied endete, blickte lange auf ihre Tür. Nichts rührte sich. All seinen Mut zusammennehmend erhob er sich, tat die wenigen Schritte, die ihn von Hannas Zimmer trennten. Er hob seine Hand um zu klopfen, verharrte einen Augenblick regungslos und ließ sie dann wieder sinken. Es war besser, wenn er nicht zu ihr ging. Mit gesenktem Kopf wandte er sich ab. Er hatte einen Auftrag auszuführen.

Scheinbar gelangweilt schlenderte er durch die Gänge, grüßte Tanten und Onkel und andere Verwandte, die ihm entgegen kamen. In Wahrheit jedoch war jeder seiner Muskeln bis aufs Äußerste angespannt und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Erst am vergangenen Abend hatte Marroc ihm im Badezimmer aufgelauert, hatte ihm aufgetragen, eine süße Kleinigkeit aus der Speisekammer mitgehen zu lassen. Marroc, der diesen Nachmittag die Ställe ausmisten musste, wollte damit verpflegt werden. Frodo hasste Diebstähle am Nachmittag. Jeder war dann auf den Beinen und kaum einer begnügte sich damit, sich in einem Wohnzimmer aufzuhalten. Kinder spielten in den Gängen, Frauen trugen Wäscheberge von einem Waschraum in den nächsten, Zimmermädchen staubten hier und da Lampen ab oder wischten den Boden, während wieder andere durch die Höhle spazierten, weil es ihnen draußen zu kalt war. Ältere Frauen, deren Knochen müde waren, ließen sich von ihren Zofen Tee bringen, der die Schmerzen lindern sollte, und durch die Tür zur Hauptküche konnte Frodo bereits der Diskussion bezüglich des Abendessens lauschen. Es herrschte reges Treiben und selbst abends war es einfacher, einen Beutel Tabak mitgehen zu lassen, als nachmittags.
Doch Frodo wusste, wie er vorzugehen hatte und mit geübtem, sicherem Blick gelang es ihm, ungesehen in einer der Speisekammern zu verschwinden.

Den Duft von Lehm und Holz in der Nase, atmete er erleichtert auf und lehnte sich mit dem Kopf gegen die Tür. Den ersten Schritt seiner Aufgabe hatte er hinter sich gebracht. Er lauschte, um sicher zu gehen, dass ihn wirklich niemand gesehen hatte, doch schien alles seine gewohnten Wege zu gehen und er wusste nicht recht, ob er sich darüber freuen sollte. Natürlich würde er mit einem erfolgreichen Diebeszug Marrocs Wut entgehen, doch verstrickte er sich damit nicht immer tiefer im Netz seines Peinigers? Machte er es dadurch nicht immer schwerer, sich selbst und Merimas aus dieser Lage zu befreien? War ihm überhaupt noch zu helfen oder war sein Schicksal bereits besiegelt? Frodo seufzte schwer, während er auf dem Regal neben sich nach einer Lampe suchte. Es hatte lange gedauert, und hätte seine Qual nicht solche Ausmaße angenommen, hätte er noch immer nicht den Mut dazu, doch inzwischen würde er den Kampf gegen Marroc wagen, wenn er nicht ständig um Merimas fürchten müsste. Seine Hände schlossen sich krampfhaft um die gefundene Streichholzschachtel. Wenn Merimas nicht wäre, hätte dieses bittere Spiel womöglich schon längst ein Ende gefunden. Doch es lief weiter, bis er irgendwann einem weitaus bittereren Ende würde entgegentreten müssen.
Mit leisem Zischen fing das Streichholz Feuer und einen Augenblick später war die Lampe entzündet, warf ihr flackerndes Licht auf Frodos betrübtes Gesicht. Suchend ließ er seinen Blick durch die kellerartige Kammer gleiten. Der Lehmboden war hier nicht mit Holzdielen verdeckt worden. Der Raum war angefüllt mit Regalen, auf denen Schüsseln und Töpfe mit Getreide gesammelt wurden. Große und kleine Fässer, die Mehl, Salz und Zucker beinhalteten standen gleich hinter der Tür. Ihnen gegenüber war ein weiteres Regal, das die ganze Breite des Zimmers einnahm und mit Marmeladegläsern jeglicher Sorten angefüllt war. Von Marillen über Erdbeeren, Brombeeren, Preiselbeeren und Kirschen war alles zu Konfitüre verarbeitet und in diesem und weiteren Regalen in anderen, kleineren Speisekammern gesammelt worden. Jede Hausfrau wäre mit offenem Mund und starrendem Blick davor stehen geblieben, doch Frodo wusste um die Mengen an Lebensmittel, die im Brandyschloss aufbewahrt wurden und schenkte seine Aufmerksamkeit dem letzten Regal, das nicht minder groß war. Auf ihm waren Einweckgläser mit Kompotten und eingelegten Früchten gestapelt. Sie schienen Frodo genau richtig, um sie Marroc zu bringen, denn er wusste, einen weiteren Kuchen, und sei es nur ein kleines Stück, würde er nicht nehmen können, ohne früher oder später den Verdacht auf sich zu lenken. Kuchen und Kekse hatte er schon viel zu häufig verschwinden lassen und nicht immer nur für Marroc.
Schnurstracks ging er auf das Regal zu. Die Lampe stellte er neben sich auf den Boden, während er sich auf die Zehenspitzen stellte, um ein Glas Birnenkompott zu erreichen. Seine Finger streiften das Glas jedoch nur und so stützte er sich an einem Brett ab, wobei er versuchte, seinen Körper weiter zu strecken.

"Frodo?"
Entsetzt wandte er sich um, hätte beinahe eines der Gläser zu Boden geschmissen. Die Lampe flackerte, als er mit der Ferse dagegen stieß. Im schwachen Licht erkannte er den einfachen grünen Rock und die weißgelbe Schürze Esmeraldas und verkrampfte sich unweigerlich. Ob sie seinen Lügen glauben würde?
"Du hast mich erschreckt."
"Was machst du hier?"
Ohne auf seine hervor gepressten Worte einzugehen, trat sie auf ihn zu und Frodo erkannte den Argwohn in ihrem Gesicht und schluckte. Sie hatte die Haare zu einem strengen Knoten zusammengenommen. Eine Strähne hatte sich jedoch nicht bändigen lassen und fiel ihr über die Schulter. Angespannt wich Frodo zur Seite, als sie die Lampe aufhob, sodass sie auch in sein Gesicht blicken konnte. Fragend hob sie eine Augenbraue, blickte von ihm auf das Regal und wieder in sein Gesicht. Ein unsicheres Lächeln lag auf seinen Zügen, während er die Hände hinter dem Rücken verschränkte und schüchtern erklärte, dass er sich etwas zu essen habe holen wollen.
"Seit dem Mittagessen sind noch nicht einmal zwei Stunden vergangen", bemerkte Esmeralda.
"Ich hatte Hunger."
Selbst Frodo fand, dass diese Antwort seine Lippen viel zu schnell verlassen hatte, doch er hütete sich davor, sich dies anmerken zu lassen, behielt stattdessen sein unschuldiges Lächeln bei. Er war einen Schritt zurückgetreten, hatte die Finger ineinander gefaltet und presste die Daumen abwechselnd in die Handflächen. Nie zuvor war er auf frischer Tat ertappt worden und die Angst darüber nahm ihm den Atem. Doch was fürchtete er mehr? Marrocs Zorn, sollte er mit leeren Händen zurückkehren, oder die Folgen seines Tuns? Saradoc würde Maßnahmen ergreifen und Merimas würden Dinge blühen, über die Frodo nicht einmal nachzudenken wagte. Unruhig verlagerte er das Gewicht von einem Bein auf das andere, fügte seinen Worten schließlich weitere hinzu. Dieses Mal sprach er mit mehr Bedacht, zeigte die Hektik nur in der rascheren Zuckung der Finger hinter seinem Rücken. "Wenn du nicht willst, dass ich etwas nehme, warte ich bis zum Tee, obwohl ich bis dahin bestimmt halb verhungert sein werde."
Scheinbar gleichgültig zuckte er mit den Schultern, wünschte sich jedoch insgeheim, sein Magen würde knurren, um seinen Worten Ausdruck zu verleihen und von seiner Anspannung abzulenken.

"Warte, Frodo!"
Esmeralda rief den Jungen zurück, als dieser sich bereits zum Gehen wandte. Die Tür stand einen spaltweit offen, ließ das Licht des Ganges auf Frodos unruhiger Gestalt ruhen. Er hatte in seiner Bewegung innegehalten, sich jedoch nicht umgedreht. Sein Körper stand kerzengerade und Esmeralda war sicher, seine Muskeln gespannt wie eine Bogensehne unter ihren Fingern zu spüren, hätte sie ihre Hände nach ihm ausgestreckt. Doch sie rührte ihn nicht an. Sie kannte jene Körperhaltung. Er würde ausweichen, im schlimmsten Falle sogar weglaufen, sollte sie falsch handeln. Im Stillen fragte sie sich, ob dies wirklich der richtige Augenblick war, das Gespräch mit ihm zu suchen. Seine Reaktion ließ sie an seinen Worten zweifeln und doch war sie bereit, darüber hinwegzusehen, wenn er zuließ, dass sie einige Worte mit ihm wechselte. Sie hatte schon seit dem Zimmerputz mit ihm sprechen wollen, ihn jedoch nie alleine angetroffen. Sie wusste, dass sie mit ihm allein sein musste, wenn sie nicht wollte, dass sich die Ereignisse jenes Nachmittages wiederholten.
"Ich mache mir Sorgen um dich", sagte sie dann und es war die Wahrheit. Unruhe hatte sich in ihr geregt, seit Saradoc ihr im Sommer von Frodos Streit mit Reginard erzählt hatte. Lange Zeit hatte sie ihn beobachtet, doch war ihr kaum eine Veränderung aufgefallen. Beinahe hätte sie die Sache auf sich beruhen lassen, doch dann war Hanna zu ihr gekommen und die beiden Frauen hatten sich lange über den Jungen unterhalten, dem sie sich beide verpflichtet fühlten. Hanna hatte berichtet, dass er sich von ihr zurückgezogen hatte und jene Gespräche, die sie zuvor häufig geführt hatten, verstummt waren. Auch sie sorgte sich um Frodo, doch da er ihr auswich, hatte Esmeralda beschlossen, den Jungen im Auge zu behalten. Manchmal, so wie an jenem Nachmittag im Zimmer der Kinder, hatte sie geglaubt, Frodo suche ihre Nähe, doch wann immer sie sie ihm gewähren wollte, schien der Junge furchtsam zurückzuweichen. Sie wusste sich keinen Rat, auch nicht, als Frodo immer angespannter wurde und Seredic ihn der Dieberei bezichtigte. Sein Pfeifenkraut war, neben vielen anderen Dingen, abhanden gekommen, doch wurde es nicht bei Frodo gefunden und Esmeralda traute dem Kind eine solche Tat auch nicht zu. Frodo mochte seine Sorgen vor ihnen verbergen, doch er war ein ehrlicher Junge.

Frodo spürte das Zittern, das bei ihren Worten durch seinen Körper ging. Er wusste nicht, ob es Wut oder Enttäuschung war, die ihn dazu veranlasste, seine Hände zu Fäusten zu ballen. Ein stechender Schmerz rührte sich in ihm, als er seine Beobachtungen ein weiteres Mal bewahrheitet fand. Sie war nur für ihn da, wenn sie sich um ihn sorgte.
Er schloss die Augen und presste die Lippen zusammen, ehe er sich langsam zu ihr umwandte. Den Blick auf den Fußboden gerichtet, flüsterte er: "Ihr sorgt euch häufig, nicht wahr, du und Saradoc?"

"Natürlich tun wir das", bestätigte Esmeralda, legte den Kopf schief und hielt die Lampe etwas höher, als er sie zaghaft anblickte. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Sein Gesicht war ebenso ausdruckslos wie seine Augen.
"Warum?"
Es war keine Frage, auch keine Feststellung, doch der Klang seiner Stimme ließ Esmeralda erschaudern. Wann hatte er gelernt seine Stimme so hohl und leblos klingen zu lassen? Mühevoll widerstand sie dem Drang, ihre Hand nach ihm auszustrecken, aus Angst, er würde zurückweichen.
"Du wirktest in den letzten Wochen sehr angespannt", erklärte sie schließlich, "und ich würde gerne wissen, was dahinter steckt."
Mit einem Mal loderte ein Feuer in seinen Augen auf und es geschah genau das, was Esmeralda befürchtet hatte. Frodo wich zurück.

Sein Zorn überwältigte ihn so plötzlich, dass Frodo ihn kaum zu kontrollieren vermochte. Er biss sich auf die Lippen. Seine Hände zitterten. Doch wurde sein Ärger alsbald von Gram abgelöst und er wandte den Blick ab. Sagte er ihr, was der Grund für seine Unruhe war, würde sie ihm den Rücken kehren, sobald die Spannungen mit Marroc und Saradoc, die zweifelsohne folgen würden, überstanden waren. Ihre Sorge wäre gelindert und die spärliche Zeit, in der sie sich um ihn kümmerte, würde ebenso vorüber sein, wie Marrocs grausames Spiel. Für einen Augenblick kam ihm der Gedanke, dass er bereit wäre, dies zu opfern und sich weiterhin alleine durchzuschlagen, doch dann fühlte er den Schmerz des Alleinseins. Und er sah Merimas, sah die Messerklinge glänzen und fürchtete das Blut, das den kleinen Körper zu bedecken drohte.
"Das ist mein Leben", sagte er dann, die Stimme fester, als er vermutet hatte, den Blick entschlossen, "und es geht dich nichts an."
Esmeralda starrte ihn entgeistert an.
"Das tut es, Frodo!" Ihre Stimme war lauter als zuvor. Es war eine Zurechtweisung. "Ich bin dein Vormund!"
Frodo blickte starr in ihre blauen Augen. Die Lampe tauchte ihr strenges Gesicht in ein gelbes Licht. Ihre Worte ließen alle Fasern seines Körpers sich verkrampfen, als sich die Wut erneut an die Oberfläche kämpfte. Wieder ballten sich seine Hände zu Fäusten, wieder begann er zu zittern und Frodo benötigte all seine Willenskraft, nicht zu sagen, was auf seiner Zunge lag. Ruckartig wandte er sich zur Tür, riss sie auf und stolperte in den Gang hinaus, wo sein mühevoll aufrecht gehaltener, undurchsichtiger Gesichtsausdruck in sich zusammenfiel und sich der Drang zu weinen seiner Miene bemächtigte.
Du magst mein Vormund sein, doch eine Mutter bist du mir nicht!

Esmeralda wollte ihm hinterher eilen, doch ihre Beine gehorchten ihr nicht und sie blieb reglos zurück, die Lampe flackernd in ihren Händen. Gequält schloss sie die Augen. Erneut hatte sie versagt. Sie spürte, dass der Junge litt und konnte ihm doch nicht helfen, hatte es noch nie vermocht. Einst hatte sie einen großen Fehler begangen, hatte ihrer Trauer erlaubt, über sie zu bestimmen, als dass sie sich jenem zugewendet hatte, der sie zu dieser Zeit am meisten gebraucht hätte. In den schlimmsten Tagen seines Lebens hatte sie Frodo alleine gelassen, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Über die Jahre war ihr klar geworden, dass sie damals die einmalige Möglichkeit gehabt hatte, Frodos Vertrauen zu gewinnen, doch sie hatte sie vertan und musste nun für den Rest ihres Lebens dafür bezahlen. Sie fühlte seinen Schmerz, doch konnte sie ihn weder zuordnen noch lindern, denn wann immer sie glaubte, zu Frodo durchzudringen, wich er zurück, sperrte sie aus. Was sie damals getan hatte, war unverzeihlich, doch es war nicht gerecht, dass nun auch Frodo dafür bezahlen musste. Kraftlos rang sie nach Luft, schüttelte betrübt den Kopf und löschte die Flamme.


~*~*~


Am Mittag, drei Tage später, verabschiedete sich Saradoc mit einem letzten "Benehmt euch!" von seinen Sprösslingen und wagte nicht, dem eifrigen Nicken, das seiner Mahnung folgte, zu vertrauen. Er war wegen einiger amtlicher Angelegenheiten in Weißfurchen, wollte außerdem vom dortigen Markt einige Lebensmittel besorgen, die im Brandyschloss knapp zu werden drohten. Sehr zum Verdruss seines Sohnes hatte er alleine reisen wollen, doch Esmeralda hatte ihn umgestimmt.

"Nimm ihn mit", hatte sie gesagt, als er sich am vergangenen Abend müde auf sein Bett gesetzt und sich seines Hemdes entledigt hatte. "Ihn und Frodo. Ein Tag fern des Alltags wird den Kindern gut tun."
Sie hatte ihre Arme von hinten um seine Brust geschlungen und ihr Kinn auf seine Schulter gelegt. "Ich werde nicht nur auf dem Markt zugegen sein."
Ihr warmer Atem hatte einen wohligen Schauer durch seinen Körper gehen lassen, als sie lächelnd einen Kuss auf seinen Hals gehaucht hatte. "Sie sind alt genug, um alleine zurechtzukommen."
Saradoc hatte dem nur schwer widersprechen können und die Kinder schließlich lange vor dem Frühstück geweckt. Während Esmeralda dafür gesorgt hatte, dass die beiden warm genug angezogen waren, hatte er ein Pony anspannen lassen und als die Sonne aufging und das Auenland erwachte, hatte er den Wagen bereits auf die Große Oststraße gelenkt. Manch ein Ochsenkarren und Ponyfuhrwerk leistete ihnen auf ihrem weiteren Weg Gesellschaft, denn einige Händler und Bauern aus Stock und den nördlichen Gebieten des Bruchs, wollten sich den Markt nicht entgehen lassen. Während der Dauer ihrer Fahrt, hatte er die Kinder immer wieder ermahnt, sich anständig zu benehmen und auf sich aufzupassen, denn der Gedanke, sie alleine zu lassen, behagte ihm auch am neuen Morgen nicht. Merry und Frodo versicherten zwar, dass ganz bestimmt nichts passieren würde und sie schon wussten, was sie taten, doch war Saradoc durch ihre Worte nicht beruhigt.
Auch als er nun mit der Zunge schnalzte und die glücklich winkenden Kinder hinter sich zurückließ, fühlte er sich nicht eben besser.

Kaum war Saradocs Karren hinter der nächsten Biegung verschwunden, wurde aus dem braven, unschuldigen Lächeln, das die Gesichter der jungen Hobbits zierte, ein siegreiches Grinsen. Merry warf den eng um sich geschlungenen Umhang über seine Schultern und öffnete den obersten Knopf seines Wintermantels.
"Allein!" triumphierte er.
"Und zu allen Schandtaten bereit!" kommentierte Frodo, ein spitzbübisches Glitzern in den Augen.
Merry rieb sich ungeduldig die Hände. "Möge das Abenteuer beginnen!"
Die Vettern warfen sich ein verschmitztes Lächeln zu, ehe sie der Großen Oststraße den Rücken kehrten und in die Seitengasse abbogen. Um den Marktplatz zu erreichen, brauchten sie nur wenige Schritte zu gehen. Frodo war von Euphorie ergriffen, die ihn zappelig werden ließ, und Merry, der neben ihm her hopste, schien noch viel aufgeregter. Bisher hatte Frodo nur den Markt von Bockenburg alleine besuchen dürfen, denn das Volk dort kannte ihn und der Weg nach Hause war nicht weit. Er hatte nicht damit gerechnet, Saradoc nach Weißfurchen begleiten zu können. Noch weniger hatte er erwartet, dass Merry und er den Markt alleine durchforsten durften. Der Herr hatte sogar jedem einige Münzen gegeben, die sie nach ihrem eigenen Gutdünken ausgeben durften, ehe er sie zur Teezeit wieder an der Kreuzung abholen wollte.
"Sieh dir das an!" jubelte Merry, die Augen leuchtend, als hätte er nie zuvor einen Marktplatz gesehen. Ohne eine Reaktion Frodos abzuwarten, eilte er zum Stand eines Glasbläsers um die liebevoll gemachten Figuren, Gläser, Krüge und Kerzenhalter zu begutachten. Als wolle sie diesen Augenblick noch beeindruckender machen, wagte sich die Mittagssonne unter der Wolkendecke hervor und sandte ihre Strahlen durch das Glas, das in allen Farben des Regenbogens funkelte. Die bunten Lichtpunkte malten ein Muster auf das weiße Tischtuch, mit dem der Verkaufstisch abgedeckt worden war und spiegelten sich in den Gesichtern der staunenden Hobbitkinder.
"Kann ich den jungen Herren behilflich sein?", fragte der Glasermeister, ein ältlicher Hobbit mit freundlichen graugrünen Augen.
Frodo schüttelte lediglich den Kopf, ehe er erneut dem Lichtspiel der Figuren verfiel, während Merry sich nicht einmal die Mühe machte, den Hobbit anzusehen.
So verzaubert schlenderten die Hobbits über den Markt, betrachteten Spielzeuge, Kerzen, Handarbeiten, Kleider, Körbe und Schreibwaren. Die ausgestellten Lebensmittel wie Honig, frisch gebackenes Brot und Kuchen ließen ihre Mägen knurren, während Süßigkeiten jeglicher Art sie von einem Stand zum nächsten lockten. Fleisch und Speck wurde ebenso angepriesen wie eine Schar Hühner, deren Eier gleich am Nebenstand gekauft werden konnten. Das Volk von Weißfurchen und der umliegenden Umgebung hatten sich in Massen auf dem Marktplatz eingefunden und keiner wollte mit leeren Händen nach Hause gehen. Nicht selten verloren sich die Vettern für einen kurzen Augenblick zwischen aufgebauschten Röcken und wehenden Umhängen aus den Augen, nur um sich am nächsten interessanten Stand wieder über den Weg zu laufen. Frodo ließ sich von wunderschönen Schnitzereien inspirieren, wobei seine Augen jedoch immer wieder zu den edlen Messern wanderten, die der Händler mitsamt den fertigen Kunstwerken anbot. Welch schöne Figuren er mit einem solchen Messer würde erzeugen können! Bisher hatte er meist Marmadas' Schnitzmesser ausgeborgt, wenn er sich an eine neue Arbeit gesetzt hatte. Ein eigenes zu besitzen reizte ihn sehr, doch er musste der Versuchung widerstehen, denn die wenigen Münzen, die Saradoc ihm gegeben hatte, reichten nicht aus, eines zu kaufen. Außerdem hatte er nicht daran gedacht, seinen Silberpfennig mitzubringen und war nicht einmal sicher, ob er diesen für ein Messer ausgegeben hätte.

Die Sonne war längst wieder hinter den Wolken verschwunden, als die Mägen der jungen Hobbits nach einer Stärkung verlangten. Gemeinsam kauften sie sich zwei große Becher Holundersaft, zwei Käsefladen und ließen sich von einer Bauersfrau zwei mit Nüssen gefüllte Gebäcksstangen geben, die großzügig mit Zuckerguss überzogen worden waren.
In der Mitte des Marktplatzes brannte ein Feuer, um dessen warmen Schein es sich die Vettern gemütlich machten. Sie setzten sich Rücken an Rücken auf einen Baumstumpf, der dort lag und beobachteten schmausend das Geschehen. Ein Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie einige Kinder sahen, die an den Händen ihrer Eltern über den Markt gezogen wurden, ohne auch nur einen Blick auf die angepriesenen Leckereien zu erhaschen. Frauen wie Männer standen beisammen und tratschten, einige Tweens saßen auf einem Karren und maßen ihre Kräfte im Armdrücken, während hier und da ein Huhn gackerte oder ein Schwein quiekte. Das Rufen und Lachen der Besucher und Händler mischte sich mit dem Knistern und Knarren des Feuerholzes und unzählige Gerüche umschmeichelten die Nasen der zufriedenen Kinder. Es roch nach Honigwein, Seife, Käse, geräuchertem Schinken und nach den wenig verführerisch duftenden Stalltieren.


Ringlein, Ringlein, du musst wandern,
von der einen Hand zur andern.
Das ist schön! Das ist schön!
Niemand darf das Ringlein sehn.


Frodo wandte sich um, als er den Reim hörte. Unweit des Feuers stand eine Gruppe Kinder in einem engen Kreis beisammen und reichte den vermeintlichen Ring hinter ihren Rücken umher. In der Mitte des Kreises stand ein verloren aussehendes Mädchen, das verzweifelt erhoffte, einen Blick auf den Ring zu ergattern. Frodo lächelte, erinnerte er sich doch nur zu gut an die helle Freude, die ihn ergriffen hatte, als er vor vielen Jahren häufig in der Mitte eines solchen Kreises gestanden und den Ring entdeckt hatte. Inzwischen konnte er einem solchen Spiel jedoch kein Vergnügen mehr abgewinnen.
Zufrieden ließ er sich gegen seinen Vetter sinken. "Wir sollten häufiger nach Weißfurchen."
"Ja", stimmte Merry zu, wobei er sich genüsslich den Zuckerguss von allen zehn Fingern leckte, "so ein Markt hat seine Vorteile, vor allem, wenn man alleine ist."
Frodo nickte, ein ungetrübtes Lächeln im Gesicht. Seine Gedanken wanderten zu all den schönen Dingen, die er gesehen hatte.
"Kaufst du dir etwas?", wollte er schließlich wissen.
Merry zuckte mit den Schultern. "Dazu muss ich mich noch einmal genauer umsehen."

Als hätten sie es abgesprochen, sprangen die Vettern auf die Beine und stürzten sich ein weiteres Mal ins Marktgetümmel. Wieder führten sie sich begeistert von einem Marktstand zum anderen. Frodo zeigte seinem Vetter das begehrte Schnitzmesser, doch der Jüngere fand wenig Gefallen daran. Merry konnte sich hingegen für einen kleinen Lederbeutel begeistern, in dem er seine schönsten Steine aufbewahren wollte.
So verging die Zeit rasch und hatte zum Mittag noch die Sonne zwischen den Wolken hervorgezwinkert, fiel am Nachmittag bereits Schnee. In den vergangenen Tagen hatte es häufig geschneit, doch waren die spärlichen Flocken selten länger als einige Stunden liegen geblieben. Die jungen Hobbits kümmerte das Wetter jedoch wenig. Sie lachten und alberten, spielten mit Kindern ihres Alters, ärgerten die Mädchen und sorgten so für einigen Tumult auf dem Markt. Sie genossen ihre gemeinsame Zeit und Frodo fühlte sich so ausgeglichen wie lange nicht mehr.
Merry entschloss sich schließlich dazu, den Lederbeutel zu kaufen, während Frodo mit einem solch wehmütigen Ausdruck vor dem Schnitzmesser stand, dass der Händler sich seiner erbarmte und ihm einen geschnitzten Stern mit fünf Zacken schenkte, den Frodo dankbar annahm. Als der Schneefall heftiger wurde, kletterten die Vettern auf einen Holzbalken nahe einem Milchwarenstand, der in einer windgeschützten Ecke stand. Die Bauersfrau, die diesen führte, war nicht viel älter als Primula Beutlin es gewesen wäre. Ihr dunkles, langes Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, den sie unter dem warmen, braunen Wollumhang versteckt hielt. Frodo und Merry grüßten sie freundlich, ehe sie sich über die gebrannten Mandeln hermachten, die Merry mit seinen letzten Münzen gekauft hatte.
"Zu einem solchen Mahl gehört auch eine große Tasse Milch", rief die Bauersfrau, die sich später als Bella Kleinbau vorstellte, ihnen zu und bald darauf hatte jeder der Vettern eine ebensolche in der Hand. Bella wies sie jedoch darauf hin, von den fünf großen Kannen Milch, die neben dem Holzbalken standen, fern zu bleiben, denn ihr Gatte Karl sehe Kinder nur ungern in deren Nähe. "Er ist ein wenig empfindlich, seit die Nachbarskinder ihm mal mehr als hundert Liter Milch verschüttet haben."
Merry und Frodo versprachen, gut auf die Kannen, die je sechzig Liter Flüssigkeit fassten, Acht zu geben, was Bella zufrieden lächelnd zu ihren Käufern zurückkehren ließ.

Frodo hatte die Kapuze seines grünen Umhangs tief ins Gesicht gezogen. Einige feuchte Haarsträhnen zeigten sich darunter, hingen ihm in die Augen. Eine Schneeflocke landete auf seiner roten Nase, verweilte dort einen Augenblick, schmolz und tropfte ihm schließlich von der Nasenspitze. Seine Hände umklammerten den Holzbalken, während sein Blick gedankenverloren auf seinen baumelnden Füßen ruhte.
An den vergangenen Tagen hatte er häufig darüber nachgedacht, Saradoc nach seinem alten Zimmer zu fragen. Er teilte sich gerne ein Zimmer mit Merry, war glücklich, sich jede Nacht mit ihm unterhalten und bis in die frühen Morgenstunden Karten spielen zu können, doch manchmal vermisste er die Abgeschiedenheit seines alten Zimmers. Die Stille jener vier Wände, die alleine ihm gehörten und die Sterne, die ihm des Nachts Trost gespendet hatten. Trost, den er jetzt vermisste und der ihn beizeiten Dinge aussprechen ließ, die er nicht hatte sagen wollen. Merry antwortete darauf mit verständlichem Zorn. Der bittere Beigeschmack ihrer letzten großen Auseinandersetzung war geblieben, ebenso wie der Schmerz, dass ausgerechnet Merry ihm hatte sagen müssen, was Frodo zwar spürte, aber nie ganz zu glauben gewillt war. Er hatte keine Mutter - nicht mehr.
Frodo hatte gefürchtet, er und Merry würden sich wegen der Streitigkeiten, die immer häufiger geworden waren, auseinander leben, und Frodo war fest entschlossen gewesen, mit dem Herrn von Bockland zu sprechen. Doch der Marktbesuch hatte ihm gezeigt, dass eine solche Unterhaltung nicht vonnöten war. Der heutige Tag hatte ihm das Gegenteil bewiesen. Er und sein Vetter hatten schon immer zusammengehört und würden auch immer zusammen gehören.

"Ich bin gleich zurück!" ließ Merry ihn wissen, versicherte sich mit einem raschen Blick, dass die Bauersfrau nicht zu ihnen herübersah und hüpfte vom Balken, um in den schneebedeckten Büschen hinter dem Marktstand zu verschwinden.
So plötzlich aus seinen Gedanken gerissen, blickte Frodo seinem Vetter verwirrt hinterher, ehe er seinen Umhang enger um sich schlang. Bis zur Teezeit war es nicht mehr lange hin und Frodo hoffte, Saradoc würde sie pünktlich abholen, denn inzwischen sehnte sich sein frierender Körper nach der prasselnden Wärme eines Kaminfeuers. In der Hoffnung, dass ein wenig Bewegung ihn wieder aufwärmen würde, stellte sich Frodo schließlich auf den schmalen Holzbalken. Er hatte keine große Mühe, sein Gleichgewicht zu halten, schwankte aber dennoch einige Male, als er ein wenig in die Knie ging und sich nach vor beugte, um die zwei Tassen aufzuheben, aus denen er und Merry zuvor ihre Milch getrunken hatten. Ein unruhiges Wanken ging durch seine Beine und er verharrte einen Augenblick regungslos, die Finger der einen Hand in den Henkeln der Tassen, die der anderen in einem sicheren Griff um den Balken gelegt. Das Gleichgewicht wieder gefunden, richtete Frodo sich langsam auf, streckte die Arme nach außen und schwankte mit bedachten Schritten an den Milchkannen vorbei auf Bella Kleinbau zu. Ein kräftiger Windstoß wehte ihm die Kapuze vom Kopf und blies ihm Schnee ins Gesicht, doch Frodo ließ sich davon nicht beirren.
"Vorsicht, Junge! Nicht, dass du runter fällst", mahnte Bella erschrocken, als sie seiner gewahr wurde. Rasch nahm sie ihm die Tassen ab, die er ihr dankbar reichte. Diese schnell beiseite legend, griff sie nach seiner Hand, stützte ihn, während er sich vorsichtig umdrehte.
"Keine Sorge", beruhigte Frodo sie mit einem verschmitzten Lächeln, "ich bin schon auf schmaleren Balken gelaufen, ohne herunterzufallen."

Im vergangenen Sommer hatten Merry und er sich einen Spaß daraus gemacht, auf immer schmaleren und immer höheren Balken und Stangen zu balancieren. Besonders beliebt waren die Bretter der Pferdekoppel gewesen, auch wenn es ihnen meist nur mit der Hilfe des Anderen gelungen war, überhaupt darauf zu stehen. Manchmal waren sie heruntergefallen und noch häufiger herunter gesprungen, wenn das Gleichgewicht sie verlassen hatte, doch Frodo war es zwei Mal gelungen, die ganze Koppel zu umrunden, ohne ein einziges Mal von den Brettern springen zu müssen. Merry hatte ihm nachzueifern versucht, entschlossen, dieselbe Leistung zu erbringen, doch stellten die Eckpfosten ein schier unüberwindbares Hindernis für seinen Vetter dar. Jedes Mal waren sie ihm zum Verhängnis geworden und hatten ihn, sehr zu seiner Verärgerung, zu einem rettenden Sprung ins Gras gezwungen.

Nicht völlig von den Worten des Jungen überzeugt, ließ Bella dennoch von seiner Hand ab, als dieser sich scheinbar sicheren Schrittes aufmachte, seinen Weg zurückzugehen. Lieber wäre sie mit ihm gegangen, um ihn im Notfall aufzufangen oder zumindest zu stützen, doch eine junge Mutter mit zerzausten, kastanienbraunen Locken, einem Kleinkind auf dem Arm und einem zweiten an der Hand, rief sie zu sich an den Verkaufstisch.

Pfeifend trat Merry hinter dem Marktstand hervor, nur um erschrocken zusammenzuzucken, als eine wütende Stimme ihn anfuhr.
"Du da! Verschwinde von den Kannen!"
Die Stimme gehörte zu einem untersetzten, stämmigen Hobbit, dessen dunkles Haar wirr in alle Richtungen zeigte. Obwohl Merry den Bauer nicht kannte, wusste er sofort, dass es sich um Karl Kleinbau handelte und bemerkte erst, dass sein zorniger Ausruf nicht ihm galt, als mit lautem Klirren und Poltern eine der Kannen zu Boden fiel und ihren Inhalt auf dem gefrorenen Boden verteilte. Frodo stand daneben, einen schmerzvollen Ausdruck im Gesicht und ein Bein angewinkelt. Die Hände hatte er verzweifelt um die daneben stehende Kanne geschlungen, doch sein Blick ruhte verzagt auf der verschütteten Milch. Die Bäuerin stand an seiner Seite, war jedoch im Gegensatz zu Frodo nicht untätig, sondern beeilte sich, die umgefallene Kanne wieder aufzurichten.
Merry witterte den Ärger, der auf Frodo zukam, als er das wutentbrannte Gesicht des Bauers sah. Für einen Moment kniff er die Augen zusammen, sammelte so den Mut, um Frodo beizustehen.

Der plötzliche Ausruf ihres Mannes hatte Bella überrascht und als sie sich umwandte, sah sie, dass der ihr unbekannte Junge noch mehr erschrocken war. Wild mit den Armen rudernd, versuchte er, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen, und sie eilte zu ihm, ohne über ihr Handeln nachzudenken. Bevor sie ihn jedoch erreichen konnte, rettete er sich mit einem wackeligen Sprung auf de n Boden, stieß dabei jedoch gegen zwei der Kannen. Das Umfallen der einen konnte er gerade noch verhindern, doch die andere fiel auf seine Zehen, noch ehe er sich hatte umwenden können, um auch sie zu retten. Bella hörte das schmerzhafte Zischen, als er seinen Fuß unter der schweren Eisenkanne hervorzog. Darum bemüht, nicht in die verschüttete Milch zu treten und den Schaden so gering wie möglich zu halten, eilte sie erst um das Kind herum und stellte die Kanne wieder auf, als ihr Mann fluchend und schimpfend heran stürmte.
"Frodo!"
Bella wandte sich zu dem hellhaarigen Jungen um, von dem ihr erst jetzt auffiel, dass er zuvor nicht zugegen gewesen war. Frodo war also sein Name?
"Ist alles in Ordnung?" fragte sie besorgt, wusste sie doch nur zu gut um den Schmerz, den eine umfallende Milchkanne verursachen konnte.

Frodo hatte die Milchkanne vor dem Umfallen bewahren wollen, als er so ungeschickt gefallen war, doch jetzt hielt er sich mehr daran fest, während pochende Schmerzen durch seinen Fuß jagten. Ehe er der Bäuerin antwortete, versicherte er sich, ob er noch im Besitz aller fünf Zehen war, denn im Augenblick fühlte es sich an, als wären sie alle noch immer unter der Kanne begraben. Schließlich nickte er jedoch und ließ sich von Merry stützen, als dieser zu ihm kam. Sein Vetter hatte jedoch keine Möglichkeit ihm zu helfen, denn der Bauer kam dem jungen Brandybock zuvor, packte Frodo am Arm und zerrte ihn von den Kannen weg.
"Was fällt dir ein, du kleiner Taugenichts!" grummelte er und Frodo zuckte zusammen, als er gezwungen war, mit seinem verletzten Fuß aufzutreten. "Was machst du hier? Wo sind deine Eltern?"
"Ich bin mit dem Herrn von Bockland hier", beeilte Frodo sich zu antworten und fügte hektisch hinzu, dass er die Kanne nicht mit Absicht umgeworfen hatte. "Es war ein Versehen."
"Du bist der Sohn des Herrn?" fragte Karl verblüfft, ließ von seinem Arm ab und blickte ihn eindringlich an.
Frodo schüttelte den Kopf und deutete auf Merry, der sogleich kundtat, dass er Saradoc Brandybocks Sprössling war und dass dieser es ganz bestimmt nicht gutheißen würde, wenn Karl grob mit seinem Vetter umging.
Der entschlossene Ausdruck, den Merry dabei aufsetzte, ließ Frodo beinahe laut auflachen, doch gelang es ihm, diesen Ausbruch von Erheiterung zu einem Kichern, das er hinter seiner Hand verborgen hielt, abzuschwächen.
Karl Kleinbau ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken. Er funkelte Merry ebenso zornig an, wie er zuvor Frodo betrachtet hatte. "Dann würde ich vorschlagen, dass du deinen Vater schleunigst hierher holst und er wird dann entscheiden können, was gutgeheißen wird und was nicht. Bis dahin bleibt dein Freund bei mir."
"Aber…", wollte Merry protestieren, doch Frodo, der hinter dem Bauern stand, brachte ihn mit einem Kopfschütteln zum Schweigen. Anders als Merry war sich Frodo durchaus bewusst, dass es hierbei nicht um eine Strafe ging, sondern um den Verlust, den sein Ungeschick den Bauer gekostet hatte. Er hatte bestimmt vierzig Liter Milch verschüttet und diese würden bezahlt werden müssen.

Mit einem letzten verzweifelten Blick auf seinen Vetter eilte Merry davon, um am ausgemachten Treffpunkt auf seinen Vater zu warten. Frodo blieb schwer seufzend zurück. Saradoc würde für den Schaden aufkommen, doch er selbst kam bestimmt nicht straflos davon. Ob er seine Schulden würde abarbeiten müssen?
"Es war keine Absicht, Karl", beschwichtigte Bella ihren Gatten, als dieser seinen wutentbrannten Blick wieder auf Frodo richtete. Ohne auf seine Frau zu hören, stellte der Bauer den Jungen neben den Markstand, wo er warten musste, bis er abgeholt wurde.
Wehmütig blickte Frodo auf seine schmerzenden Zehen, zog sich erneut die Kapuze über den Kopf und hörte zu, wie der Bauer sich über den Verlust seiner Milch beklagte und die Bäuerin sich um neu herangetretene Käufer kümmerte.

Die Zeit verging und Frodo begann, sich zu langweilen. Er war dazu übergegangen, die Besucher des Marktes zu beobachten und Kindern - besonders den Mädchen, die ihn schadenfroh belächelten - Grimassen zu schneiden. Daran verlor er jedoch bald das Interesse, nicht zuletzt, weil Kinder und Eltern alsbald wieder im Marktgetümmel verschwanden, während er an Ort und Stelle gebunden war und schon ermahnt wurde, wenn er nur einen Schritt zur Seite machte. Bella hatte ihm eine weitere Tasse Milch geben wollen, doch Karl hatte sie davon abgehalten und gemeint, er habe schon mehr als genug von ihrer Milch für sich beansprucht, eine Aussage, die Frodo beschämt den Blick senken ließ.
"Na wenn das nicht Frodo Beutlin ist!" Frodo hob den Kopf, als die kräftige, tiefe Stimme an sein Ohr drang. "Treibst selbst in Weißfurchen dein Unwesen, was?"
"Unwesen?!" zürnte Bauer Kleinbau grimmig. "Der verdirbt mir den ganzen Verkauf, das tut er!"
Während Frodo entsetzt einen Schritt zurückwich, führte Karl seinen zornigen Bericht über das Ungeschick des jungen Tunichtguts fort, nicht ohne diesen ein weiteres Mal anzubrüllen, als Frodo beim angstvollen Zurückweichen mit der Ferse gegen eine weitere Kanne stieß und sich für einen Augenblick auf deren Deckel setzte. Als er sich dessen klar wurde, sprang er jedoch sofort wieder auf die Beine, hielt sich aber an der Kanne fest, als könne sie ihn schützen. Vor ihm stand die breitschultrige Gestalt Bauer Maggots, doch seine Aufmerksamkeit galt weder dem Bauern, noch der Geschichte, die dieser mit Herrn Kleinbau austauschte. Sie galt dem Hund, der ihn mit wachsamen Augen beobachtete. Frodo hegte keinen Zweifel, dass jene tiefgründigen, dunklen Augen ihn wieder erkannten und auch wenn er fernab von Maggots Grund und Boden war, verkrampfte er sich, immer damit rechnend, der Hund würde ihn anfallen. Er wagte nicht einmal mehr zu atmen, während er das Tier angespannt beobachtete und seine Pobacken gegen die Milchkanne presste, als könne er dadurch weiter in den Hintergrund verschwinden.

"Dort drüben ist es."
Zwischen den Besuchern des Marktes tauchten Merry und Saradoc auf, beide eng in ihre Umhänge gewickelt. Merry hatte seinen Vater bei der Hand genommen und führte ihn eiligen Schrittes zum Verkaufstisch der Kleinbaus, wo sich dieser sofort am Gespräch der Bauern beteiligte.
Frodo stand wie angewurzelt, die Augen vor Furcht geweitet. Der Hund saß ihm friedlich gegenüber, blieb an der Seite seines Herrn und wedelte mit dem Schwanz wann immer Maggot mit den Fingern über seinen Kopf kraulte. Das Tier wirkte nicht halb so Furcht einflößend wie an jenem Tag, an dem es ihn knurrend und kläffend die Landstraße entlang gejagt hatte. Frodo schluckte schwer und kniff die Augen zusammen. Ohne sie wieder zu öffnen tapste er zaghaften Schrittes in Merrys Richtung, denn sein Vetter war nicht weniger entsetzt einige Schritte vom Marktstand entfernt stehen geblieben. In den Jahren ihrer Raubzüge hatten beide Hobbits großen Respekt vor Maggots Hunden bekommen. Als sich nichts rührte, wagte Frodo schließlich, seine Augen wieder zu öffnen und rannte mit klopfendem Herzen zu Merry. Der Hund hatte ihn beobachtet, sah nun mit schief gelegtem Kopf zu ihnen herüber, was den Vettern nicht sonderlich behagte.

Nicht lange darauf wanderten die Kinder an der Seite des Herrn über den Marktplatz, erleichtert Abstand zwischen sich und Maggots Hund zu bringen. Frodo hatte den Kopf gesenkt, schielte jedoch ab und an zu Saradoc. Dieser hatte kein Wort mit ihm geredet, seit er die verschüttete Milch bezahlt hatte und Frodo fürchtete, er grüble bereits über eine besonders harte Strafe nach.
"Hast du die Münzen noch, die ich dir gegeben habe?"
Überrascht hob Frodo den Kopf und nickte. "Nicht mehr alle, aber…", er wühlte in seiner Hosentasche, um sie dem Herrn zu präsentieren.
Saradoc betrachtete sie einen langen Augenblick, rümpfte die Nase, als sich eine Schneeflocke darauf niederließ. Wortlos nahm er dann den Beutel von seinem Hosenbund und öffnete die dünne Lederschnur. In Gedanken sah Frodo schon, wie er in zehn Jahren noch wehmütig auf das begehrte Schnitzmesser blickte, doch ließ er die Münzen mit einem tiefen Seufzen zurück in den Beutel fallen. Saradoc hatte um einiges mehr ausgeben müssen, um den Schaden wieder gutzumachen, den er angerichtet hatte.
Der Herr nickte zufrieden. "Ich nehme an, bis auf dieses kleine Missgeschick habt ihr euch gut gehalten?"
Überrascht runzelte Frodo die Stirn, denn Saradocs Worte klangen trotz seiner vorherigen Schweigsamkeit fröhlich. Er tauschte einen verwunderten Blick mit Merry, der nur mit den Schultern zuckte, sah dann zum Herrn auf. Ein Lächeln zeigte sich auf dessen Zügen und Frodo atmete erleichtert auf. Saradoc hatte nicht vor, ihn strenger zu bestrafen.
"Wir haben uns sehr gut benommen", versicherte Merry.
Frodo nickte bekräftigend und spürte plötzlich wieder denselben Übermut, der ihn zu Beginn des Tages ergriffen hatte. Ein breites Lächeln ließ sein schneenasses Gesicht erstrahlen, doch verschwand dieses, als er schwer seufzend den Kopf schüttelte.
"Wenn ich gewusst hätte, dass ohnehin ein Unglück passiert", tat er kund, während Saradoc ihn verwundert und mit einem Hauch von Sorge betrachtete, "und dass du heute mit Strafen gnädig bist, hätte ich es nicht dabei belassen, den Mädchen Grimassen zu schneiden und mit Stroh nach ihnen zu werfen."
Frodo bemerkte, wie die Besorgnis in Saradocs Gesicht der Erheiterung wich und zuckte schmunzelnd zusammen, als der Herr ihm strafend auf den Hinterkopf schlug.
"Ich glaube, bis wir zu Hause sind, werde ich mir wohl doch eine härtere Strafe für dich ausdenken müssen", meinte er augenzwinkernd. "Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?"
Merry verbiss sich ein Kichern, setzte stattdessen einen nachdenklichen Ausdruck auf. "Da wäre die Prügelei mit den Tweens, in die wir hineingeraten sind,…"
"… und die Dreckklumpenschlacht hinter dem Hühnerstall", machte Frodo vergnügt weiter.
"Die Mädchen haben vielleicht geschrieen!" Merry rollte mit den Augen, hatte jedoch Mühe, ernst zu bleiben.
Kopfschüttelnd und mit einem Lächeln im Gesicht legte Saradoc einen Arm um jeden seiner Jungen, während diese munter kichernd fortfuhren, ihm von ihren angeblichen Schandtaten zu berichten.





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