Stories of Arda Home Page
About Us News Resources Login Become a member Help Search
swiss replica watches replica watches uk Replica Rolex DateJust Watches

Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Kapitel 70: Zug um Zug


Nachjul 1388 AZ


Der Herbst zog ins Land und färbte die Blätter bunt. Im Winterfilth wurden die letzten Felder und Gemüsebeete abgeerntet und jene Äpfel und Birnen, die sich nicht von den Ästen trennen wollten, von den Bäumen geschüttelt. Es war ein reiches Jahr gewesen und die Vorratskammern Bockenburgs und des Brandyschlosses waren bis zum Bersten gefüllt. Als das Vieh in die Ställe zurückgetrieben und die Schafe geschert wurden, bemerkte keiner, dass einer der Stallburschen nicht fleißig bei der Arbeit war, sondern sich ein noch warmes, großzügig geschnittenes Kuchenstück gönnte, über dessen Verbleib sich die Küchen-Mimi bereits den Kopf zerbrach. Sie gab die Schuld einem der Kinder, doch wurde der Übeltäter nie gefasst, auch nicht, als eine Woche später ein weiteres frisch gebackenes Kuchenstück verschwand.
Gegen Ende des Monats bedeckte der erste Frost die Wiesen und die Kinder wussten, dass die Zeit des Unterrichts bald anbrechen würde. Manche, so wie Lily Brandybock, Frodos Cousine zweiten Grades, die erst in diesem Monat ihren zehnten Geburtstag gefeiert hatte, freuten sich darauf, während andere dieser Zeit des Jahres weniger begeistert entgegenblickten. Frodos Vetter Marmadoc war aus ihrer kleinen Gruppe der Einzige, der sich freute, denn in diesem Jahr stieg er in die höchste Stufe auf.
Die ersten Wochen fielen jedoch auch ihm nicht leicht und jeder war froh, als der Vorjul anbrach. Ab Mitte des Monats wurden die Jul-Vorbereitungen zum Hauptgesprächsthema und die Belehrung der Kinder verlor an Bedeutung. Dies änderte sich erst, als die Feierlichkeiten vorüber waren. Dann wurde die Klasse jedoch gefordert, denn scheinbar erwartete jeder, dass die Kinder im neuen Jahr bereit waren, ihre Vormittage zu opfern und ihren Geist mit begrifflichem Wissen anzufüllen.

Die Klasse bestand, sehr zum Verdruss des unterrichtenden Hobbits, aus allen im Brandyschloss lebenden Kindern im Alter zwischen zehn und fünfundzwanzig, und es fiel nicht leicht, eine solch große Gruppe bei Laune zu halten. Aus diesem Grund war vor vielen Jahren beschlossen worden, die Klasse in unterschiedliche Stufen zu teilen. Während die Kleinsten, im Alter von zehn bis dreizehn, lernten mit der Feder umzugehen, sofern ihnen das nicht bereits von den Eltern beigebracht worden war, halfen die Ältesten, jene im Alter von zweiundzwanzig bis fünfundzwanzig, die in keiner Lehrverpflichtung standen, dem unterrichtenden Hobbit bei der Belehrung der Jüngsten. Vor allem jene waren nicht leicht zu unterweisen, da manche ihre Buchstaben bereits von den Eltern gelernt hatten, während andere nicht einmal wussten, wie sie eine Feder zu halten, geschweige denn zu verwenden hatten.
Die Kinder im Alter von vierzehn bis siebzehn perfektionierten ihre Schrift, übten das Lesen und lernten zudem zu rechnen. Außerdem wurde ihnen ein wenig Grundwissen zur Vegetation mitgegeben, all dies, was sie in den langen Sommern auf den Feldern und in den Wäldern meist übersahen. Die übrig bleibende Gruppe, jene Kinder von achtzehn bis einundzwanzig, durften sich mit schwereren Rechenaufgaben quälen, denn ihre Buchstaben beherrschten die meisten. Außerdem wurden sie in der Geschichte und Geografie instruiert, lernten nicht nur, wo welche Ortschaften lagen, sondern auch, wer die Bewirtschaftung der einzelnen Vierteln zu überwachen hatte.

Der Unterricht war ein Sonderrecht, das jedem im Brandyschloss lebenden Kind zuteil wurde, doch war dies nicht alles, was jungen Hobbits mitgegeben wurde. Was sie über die wärmeren Monate auf den Feldern oder während der Tierversorgung lernten, war nicht minder von Bedeutung. Dies waren jedoch Lehrstunden, der sich die Eltern annahmen und somit sahen die Sommermonate bei jedem Kind unterschiedlich aus, da nicht alle Eltern den Umgang mit Booten oder das Scheren von Schafen für wichtig hielten. So nahm die Mithilfe in der Küche bei einem Mädchen mehr Zeit in Anspruch, obwohl gewünscht wurde, dass jeder Hobbit zu kochen lernte. Handarbeit wiederum war eine Beschäftigung, die einzig dem weiblichen Nachwuchs zugedacht wurde, während die Arbeit auf Hof und Feld den Jungen vorbehalten war.

Jenes Wohnzimmer, in dem der Unterricht für gewöhnlich abgehalten wurde, befand sich in einem der westlichen Gänge. Im Raum waren mehrere Tische aufgestellt, um die sich die Kinder versammelten. Die Ältesten ließen sich nahe des Kamins nieder, während die Jüngsten nahe der Türe saßen, da sie meist die Letzten waren, die morgens erschienen und die Ersten, die den Unterricht wieder verließen. Ein Kerzenkronleuchter spendete ausreichend Licht, während das Kaminfeuer für die nötige Behaglichkeit sorgte.
Jammern oder Weinen vonseiten der Jüngsten war nichts Ungewöhnliches und störte die anderen nur selten bei der Arbeit. Frodo ließ seinen Blick dennoch in diese Richtung wandern, als Rumil Bolger zu schimpfen begann und Flüche ausstieß, von denen er sich wunderte, woher das Kind sie kannte. Rumil war Drida Bolgers ältester Sohn und Frodos Vetter zweiten Grades. Der Junge war für seine Ungeduld und seinen Trotzkopf, die nicht selten zu einem minderen Wutausbruch führten, bekannt.
Marmadoc stand neben dem jungen Hobbit, einen hilflosen Ausdruck im Gesicht, während er versuchte, das Kind zu beruhigen und wieder zum Schreiben zu bewegen. Ein erheitertes Lächeln schlich sich über Frodos Züge. Marmadoc hatte sich seinen Platz in der Lerngruppe wohl nicht so vorgestellt. Ein älteres Mädchen mit dunklem Haar, an dessen Namen Frodo sich nicht sofort erinnern konnte, gesellte sich zu seinem Vetter und ihr gelang es schließlich, den erzürnten jungen Bolger soweit zu beruhigen, dass dieser aufhörte zu schreien. Rumil behielt seinen entschlossenen Ausdruck jedoch bei, verschränkte betont die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf, um klar zu machen, dass er nicht länger Buchstaben kritzeln wollte.
"Frodo?"
Der Angesprochene erwachte aus seinen Gedanken, als Madoc Platschfuß ihm einen Zettel reichte. Wie in beinahe jedem Winter, hatte sich Frodo auch dieses Jahr mit Nelke, Rubinie, Madoc und Minto an einen Tisch gesetzt. So konnten sie all ihre Rechenprobleme und geografischen Sorgen gemeinsam lösen. Mit leisen Worten bedankte sich Frodo beim Älteren der Platschfuß-Brüder und machte sich daran, das Blatt Papier zu studieren, das Merimac, der für den heutigen Tag durch den Unterricht führte, zuvor ausgeteilt hatte.
Es war kein besonders schwerer Text. Auf zwei Seiten waren in kurzen Worten die wichtigsten Ämter innerhalb des Auenlandes zusammengefasst, angefangen von den drei Landbütteln, die in jedem Viertel tätig waren, über die Postboten, bis hin zum Herrn, dem Thain und dem Bürgermeister. Das Meiste war Frodo bereits bekannt, denn wer wusste nicht, was ein Landbüttel war und dass man ihn an der Feder an seiner Mütze erkennen konnte?

Gelangweilt reichte er das Papier an Nelke weiter und versank in Gedanken. Die Stunden des Unterrichts waren für ihn zu einer Zeit der Erholung geworden. Während jener ruhigen Stunden im Lernzimmer gab es für Marroc keine Möglichkeit ihm aufzulauern und ihn zu schändlichen Diebereien zu zwingen. Seit nunmehr über vier Monaten war er dem älteren Hobbit dienlich und brachte ihm Kuchen und andere Leckereien aus den Speisekammern. Frodo war erleichtert gewesen, dass dies alles zu sein schien, was Marroc von ihm wollte, doch kaum hatte sich dieser Gedanke in ihm festgesetzt, hatte der Tween mehr verlangt. Erst hatte Frodo Saradoc Münzen stehlen müssen, die der Tween zweifelsohne für den Genuss von Bier ausgegeben hatte, während er nun vor allem für das Auftreiben von Pfeifenkraut herangezogen wurde. Eine Pfeife hatte Marroc bereits, doch offensichtlich verfügte er nicht über die Mittel, sich das nötige Kraut zu besorgen. So war es an Frodo, Tabakbeutel zu stehlen, wenn keiner ihn beachtete und diese an Marroc weiterzureichen, ehe der Verdacht auf ihn fallen konnte. Zwei Mal hatte man ihn schon beschuldigt, doch hatte er seine Beute rechtzeitig seinem Auftraggeber zukommen lassen, sodass ihm die Tat nicht hatte nachgewiesen werden können und doch wusste Frodo, dass Saradoc und andere ein scharfes Auge auf ihn gerichtet hatten.
Da Sadoc und Ilberic nicht länger im Brandyschloss weilten, war es nun vor allem Reginard, der von Marrocs neuster Gemeinheit profitierte. Meist saßen die beiden Vettern gemeinsam auf dem Heuboden und rauchten, während Frodo mit schlaffer Haltung und ausdrucksloser, nüchterner Miene neben ihnen stand, die Angst, er könne auf seinen Diebeszügen erwischt werden, noch immer in den Knochen. Mehrere Male hatte er darüber nachgedacht, dem Ganzen ein Ende zu bereiten, doch verdrängte das Bild eines von Messerschnitten übersäten Merimas diesen Gedanken jedes Mal aufs Neue. Er konnte nicht zulassen, dass ihm etwas geschah und da Frodo die Gewissheit, dass Hannas Sohn in Sicherheit war, niemals haben konnte, schwieg er, auch wenn seine Entwendungen weitaus größere Ausmaße annahmen, als er anfangs gefürchtet hatte.
Die Furcht entdeckt zu werden, sei es bei der Ausführung eines Auftrages, oder um einen neuen zu erhalten, war zu seinem ständigen Begleiter geworden. Er war angespannt und dadurch leicht zu reizen. Frodo sehnte sich nach einem Ort, an den er sich zurückziehen konnte, doch auch wenn er jene Erlösung in der Bibliothek fand, war sie nicht von Dauer. Er wagte nicht, sich lange in jenem verstaubten Raum aufzuhalten, denn er fürchtete, Marroc könnte ihn auch dort aufspüren und soweit sollte es nicht kommen. Die Bibliothek hütete noch immer seinen größten Schatz und dessen sollte sein Peiniger nicht gewahr werden.
Seine Bindung zu Merimas hatte an jenem Tag auf der Pferdekoppel großen Schaden genommen. Der kleine Hobbit hatte ihm seine Tat zwar verziehen, beobachtete ihn seither jedoch mit kritischen Augen, wann immer Frodo mit seinem Spielzeug spielte. Frodo verbrachte seine Zeit nur mehr selten mit Merimas, denn er wollte nicht, dass das Kind Ziel seiner empfindlichen Laune wurde oder Hanna Fragen über ebenjene stellen konnte. Im Stillen hatte er Abschied von der Familie genommen, die ihm so vieles bedeutete, denn noch mehr Schaden wollte er nicht über sie bringen, auch wenn es ihn schmerzte, nun gar nicht mehr mit Hanna zu sprechen.

Einen Vorteil brachte sein Bündnis mit Marroc jedoch. Reginard duldete seine Freundschaft zu Nelke, wenn auch nur widerwillig und mit einem kritischen Auge. Frodo war fest entschlossen gewesen, Nelke nicht wieder zu treffen, nachdem ihm der Grund für ihren Trennungswunsch klar geworden war. Mit weinendem Herzen hatte er ihr seine Entscheidung mitteilen wollen, doch war es dieses Mal Nelke gewesen, die ihn umgestimmt hatte. Ganz gleich, was Olo Boffin denken oder tun sollte, sie wollte ihn weiterhin heimlich treffen, wie sie es beschlossen hatten. So lange sie vorsichtig waren, konnte ihnen nichts geschehen. Frodo hatte trotz seiner Sorge um Nelke zugestimmt, denn anders als sie, wusste er, dass Reginard nun nicht länger gegen sie war. Nelkes Bruder würde sie nicht noch einmal verraten, so wie er es an jenem Abend, an dem Olo Boffin sie überraschte, getan hatte.
Nelke hatte dennoch beschlossen, dass es während der Wintermonate besser war, wenn sie sich nur im Unterricht sahen und Frodo hatte dem zugestimmt. Zwar blieben ihnen persönliche Gespräche verwehrt, doch genügte es ihnen, einen gelegentlichen Blick zu tauschen und nebeneinander zu sitzen.

Nelkes Stimme war es, die ihn wieder in die Wirklichkeit zurückholte und blinzeln ließ.
"Ich dachte immer, das Amt des Thains wäre das Wichtigste und doch hat der Bürgermeister mehr Pflichten."
Madoc zuckte mit den Schultern, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Nelke reichte das Papier an Rubinie weiter, die es eiligst überflog, als hoffe sie, die Antwort auf die Frage ihrer Freundin in den Zeilen zu finden, doch Frodo kam ihr zuvor.
"Das stimmt", sagte er und richtete sich in seinem Stuhl auf, hatte er sich doch davor mit dem Ellbogen vom Tisch abgestützt und das Kinn in den Händen ruhen lassen, "allerdings bleibt der Thain die wichtigste Person."
Zweifelnde Blicke trafen ihn, sowohl von den Platschfuß-Brüdern, als auch von Nelke. Einzig Rubinie schien ihm nicht zuzuhören und befasste sich lieber mit dem Zettel, den sie erhalten hatte. Fragend blickte Frodo seine Mitlernenden an und ein Lächeln schlich über seine Züge. Die Aufgaben der einzelnen Ämter waren klar im Text angeführt worden. Sollte er etwa der Einzige sein, der einen Sinn daraus hatte entnehmen können? Sein Standpunkt stand jedenfalls fest und er war durchaus bereit, diesen zu verteidigen, denn die Gesichter der anderen ließen darauf schließen, dass sie nicht derselben Meinung waren.
Nelke schüttelte den Kopf und winkte ab. "Im Vergleich zum Bürgermeister macht der Thain nichts."
Sie erntete zustimmendes Nicken von den Brüdern, doch Frodo lächelte nur, während er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte und zu erklären begann.
"Er mag zwar Postmeister und erster Landbüttel sein, doch wenn wir in weniger friedlichen Zeiten leben würden, müsste der Thain das Heer anführen und unser Land verteidigen, denn er ist sowohl Hauptmann der Hobbit-Wehren, als auch der Auenland-Heerschau. An den Bürgermeister würde sich dann niemand mehr erinnern."
Minto schüttelte den Kopf, lehnte sich ebenfalls in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Fragend zog Frodo eine Augenbraue hoch, damit rechnend, der Jüngere würde seine Aussage anfechten, doch stattdessen sagte er, sehr mit sich selbst zufrieden: "Ganz gleich, wer das wichtigste Amt hat und an wen man sich erinnern wird, ich werde bei der Post arbeiten."
Einen Augenblick herrschte überraschtes Schweigen. Den Blick in die Ferne gerichtet, schaukelte Minto mit seinem Stuhl und hing seinen Gedanken nach. Nelke gab als erste ein leises Kichern von sich, in das kurz darauf auch Madoc, Frodo und sogar Rubinie, die den Jüngeren mit einem skeptischen Blick ansah, einstimmten. Beinahe wäre Minto vom Stuhl gefallen, als das laute Lachen ihn aus seinen Tagträumen riss. Nelke langte über den Tisch, legte tröstlich ihre Hände um Mintos Rechte und sah ihn mit erheitertem Mitleid und einem verkniffenen Lachen an. "Ja, Junge, geh du nur zur Post."
Einen Moment sah Minto ihr völlig verdattert in die Augen, bis ihm klar wurde, dass sie sich über ihn lustig machten. Missmutig stieß er Nelkes Hände von sich weg, verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust und blickte griesgrämig in die Runde, wobei er mitteilte, dass es ihnen noch Leid tun würde, ihn belächelt zu haben.
"Meine Damen, meine Herren?"
Das Lachen ebbte zu einem leisen Kichern ab, während sich die Kinder wieder ordentlich an ihre Plätze setzten und versuchten, möglichst geschäftig zu wirken. Rubinie, die sich kurz zu einem Mädchen am Nebentisch umgewandt hatte, drehte sich rasch wieder um und vergrub die Nase im Zettel, wobei sie beinahe mit Nelke zusammenstieß, die ebenfalls so tat, als würde sie die Zeilen noch einmal überfliegen.
"Gibt es Probleme?"
Merimac stützte sich auf die Stuhllehnen von Frodo und Madoc und blickte in die Runde. Das Gelächter am Tisch war ihm nicht entgangen und er wollte nach dem Rechten sehen. Minto, der Jüngste in der Gruppe, ließ einen strafenden Blick zu den anderen wandern, ehe er den Kopf schüttelte. Nicht wirklich überzeugt, wollte Merimac der Sache auf den Grund gehen, doch Frodo versicherte ihm, dass alles in Ordnung war, bevor er auch nur den Mund hatte aufmachen können. Madoc nickte ebenfalls beschwichtigend, den Hauch eines Grinsens im Gesicht. "Frodo hat uns nur den Inhalt des Textes erläutert."
"Ist das so?", Merimac blickte erst auf Frodo, dann in die eifrig nickenden Gesichter der anderen Kinder. Ein Lächeln stahl sich über seine Lippen und er klopfte seinem jüngeren Vetter anerkennend auf die Schulter. "Gut gemacht!"
Frodo strahlte über das ganze Gesicht, wirkte zugleich verlegen und Merimac bemerkte nicht zum ersten Mal den bewundernden Blick, den Nelke ihm zuwarf.


~*~*~


Zufrieden schlenderte Saradoc durch die Gänge des Brandyschlosses, den lang erwarteten Brief endlich in Händen. Er hatte ihn bereits gelesen und dessen Inhalt stimmte ihn froh. Olo Boffin hatte ihn schon im letzten Herbst gebeten, beim Tischler von Bockenburg um eine Lehrstelle für seinen Sohn anzufragen. Da Saradoc den Tischler, Bingo Wühler, persönlich kannte, hatte er sich dieser Sache gerne angenommen, war jedoch mit einer Antwort auf das nächste Jahr vertröstet worden. Das neue Jahr war nun gekommen und Bingo Wühler hatte seine Erwartungen nicht enttäuscht. Bereits im nächsten Monat sollte Reginard Boffin bei ihm in die Lehre treten. Um Olo ebendies mitzuteilen, ging er alle Wohnzimmer ab, in denen er den älteren Hobbit vermutete, als Frodo plötzlich um eine Biegung stürmte und ihm geradewegs in die Arme lief. Der Junge zuckte erschrocken zusammen, verkrampfte sich und wollte sich alsbald aus seinem auffangenden Griff lösen.
"Vorsicht!" mahnte Saradoc streng, doch legte er die Stirn in Falten, als er den gehetzten, beinahe panischen Ausdruck in den Augen des Jungen sah. "Ist alles in Ordnung?" Beunruhigt ließ er seinen Blick zur Biegung wandern. "Du rennst, als würdest du verfolgt."
"Nein… ja… ich meine", stammelte der Junge und schüttelte den Kopf, als könne er sich dadurch seiner Verwirrung entledigen. "Es ist alles in Ordnung."

Frodo war gleichermaßen erleichtert und entsetzt, ausgerechnet Saradoc in die Arme zu laufen. Der Schrecken vor Marroc, der aus einem Wohnzimmer getreten war und zu seiner panischen Flucht geführt hatte, saß ihm noch im Nacken. Schon seit fast einer Woche hatte er nichts für den Älteren besorgen müssen und so lange er Marroc nicht begegnete, würde dies auch so bleiben. Deshalb war er gerannt, noch ehe er gewusst hatte, ob sein Peiniger ihn überhaupt gesehen hatte und verfolgte. Trotzdem ertappte er sich dabei, wie er über seine Schulter schielte, als auch Saradocs Blick noch einmal prüfend zur Biegung wanderte, doch weder hörten sie Schritte, noch sahen sie den vermeintlichen Verfolger.
"Bist du dir sicher?", fragte Saradoc noch einmal und blickte ihm dabei so tief in die Augen, dass Frodo den Kopf abwenden musste, auf dass der Herr der heimlichen Bitte nicht gewahr wurde. Er wollte nicht mehr stehlen müssen, wollte Marroc nicht länger dienlich sein. Er wünschte sich nichts mehr, als die Furcht endlich hinter sich zu lassen. Furcht um Merimas, aber auch Angst um sich selbst. Er hielt es nicht länger aus, für Marroc zu arbeiten und Ziel seiner Wut zu werden, doch es war zu spät, um umzukehren. Dieses Spiel lief bereits zu lange, war schon zu weit gegangen, als dass Frodo es noch hätte stoppen können. So nickte er entschlossen und schenkte Saradoc ein zaghaftes Lächeln. Der Herr schien nicht ganz zufrieden, denn er bedachte ihn einen langen Augenblick, spähte dann noch einmal zur Biegung. Schließlich nickte er und nahm die Hände von Frodos Schultern.
"Esmie sucht bereits nach dir. Alleine will sie euer Zimmer nicht aufräumen."
Frodo nickte, bedankte sich knapp bei Saradoc und eilte an ihm vorüber, den Blick, der ihm folgte, auf seinem Rücken spürend.

Esmeralda hatte schon vor einiger Zeit angekündigt, dass das Zimmer, das er mit Merry bewohnte, einer gründlichen Reinigung bedurfte. Oberflächen sollten von Staub befreit werden, Schränke von Kleidern, die den nächsten Sommer nicht mehr erleben sollten und Schubladen von überschüssigem Plunder. Merry hatte sich gleich nach dem Mittagessen an die Arbeit gemacht und war bereits fleißig damit beschäftigt, alle Gegenstände von seinem Regal zu nehmen und dieses mit einem feuchten Lappen zu putzen, als Frodo in das Zimmer schlurfte.
"Da bist du ja endlich!" Merry hatte seinen schmutzigen Lappen nach ihm geworfen, noch ehe Frodo die Tür hatte schließen können. "Wolltest dich wohl vor der Arbeit drücken."
Frodo nahm den Fetzen von seiner Schulter und warf ihn zurück. Ohne auf die Bemerkung einzugehen, setzte er sich auf sein Bett, das seiner Bezüge entledigt worden war, und gähnte herzhaft. Die vergangene Nacht war kurz gewesen, denn wie so oft hatten Merry und er sich in das Zimmer von Madoc und Minto geschlichen, wo sie Karten gespielt hatten, bis Herr Platschfuß sie entdeckt und in ihre eigenen Betten geschickt hatte. Frodo und Merry waren zwar in ihr Zimmer zurückgekehrt, doch hatte sie das Spielfieber gepackt und so waren sie im Licht des ausgehenden Feuers auf dem Fußboden neben dem Kamin gesessen und hatten gewürfelt, lange nachdem es in den Wohnräumen ruhig geworden und die Schlafzimmertür des Herrn und der Herrin mit einem leisen Klicken ins Schloss gefallen war.
"Heute Früh hat man davon noch nichts bemerkt", stellte Merry mit einem Zwinkern fest, suchte nach einem neuen Gegenstand, den er nach Frodo schmeißen konnte, um ihn aufzuwecken. Er fand das Kaninchen, das Frodo von Pippin erhalten hatte und warf es ihm zu. Frodo fing das ausgestopfte Tier auf, schüttelte den Kopf und begann dann, den Staub aus dem weichen, braunen Fell zu streicheln, um wenigstens einen geschäftigen Eindruck zu machen, denn auf einen Zimmerputz hatte er keine Lust.

Als Esmeralda in das Zimmer zurückkehrte, nahm sie darauf jedoch keine Rücksicht und verlangte sogleich, dass er seinen Nachttisch ausräumte und darin für Ordnung sorgte. Missmutig machte sich Frodo an die Arbeit, räumte Kerzen, Streichhölzer und andere Kleinigkeiten aus der oberen der beiden Schubladen. Das Feuer schien ihm dabei warm ins Gesicht und Frodo ließ sich vom leisen Knistern und dem angenehmen Duft von Apfelholz beruhigen. Wenn das Glück auf seiner Seite war, würde er Marroc heute nicht mehr begegnen.
Erschrocken zuckte er zusammen, als Merry eine kalte Hand an seinen Nacken hielt. Sein Vetter lachte, stellte fest, dass er schon wieder träumte, eine Anschuldigung, die sich Frodo in letzter Zeit häufiger als gewöhnlich hatte anhören müssen, und machte sich dann daran, das Regal wieder einzuräumen. Mit einem Lächeln im Gesicht bemerkte Frodo, wie Merry darauf achtete, dass manche Steine, die er erst im vergangenen Sommer aus dem Brandywein gefischt hatte, dem Blick seiner Mutter verborgen blieben. Einige wurden hinter dem ausgestopften Kaninchen versteckt, andere verschwanden vorübergehend in Merrys Hosentaschen. All die Zeit ließen sie ihr Gespräch immer wieder zur Überflüssigkeit eines Zimmerputzes wandern, bis Esmeralda, die derweil die Kleider im Schrank aussortierte, dem ein Ende setzte und Merry zu sich rief, um einige ältere Hosen anzuprobieren.

Nachdem er den Tisch und die obere Schublade geputzt und alles wieder an seinen Platz gestellt hatte, widmete sich Frodo der unteren Lade. Beinahe zärtlich strichen seine Finger über die alte Holztruhe, die er darin verwahrte, ehe er sie vorsichtig heraushob und auf das Bett stellte. Unter der Truhe kam eine weitere flache, lange Holzkiste mit zwei Messingscharnieren zutage. Frodo nahm auch sie heraus, legte sie auf seinen Schoß und strich mit den Fingern darüber. Das dunkle, geölte Holz war bis auf ein großes ‚B', das in den Deckel eingraviert worden war, unverziert. Die Kanten waren abgerundet. Spuren des Gebrauchs waren genauso wenig zu erkennen, wie solche des Alters. Vorsichtig nahm Frodo den Messingstift am Verschluss heraus, schob den Deckel bis zum Anschlag um den Inhalt zu betrachten. Edles Briefpapier, dessen weißgelbe Farbe einen Kontrast zum dunklen Holz bildete, kam zum Vorschein. Daneben lag eine Fasanenfeder, ebenso unbenutzt wie das Papier. Frodo hatte es von Bilbo an dessen Geburtstag erhalten. Es war ein Dankeschön für die vielen Briefe, die er seinem Onkel über die Jahre hatte zukommen lassen, ebenso wie eine Anregung, jenen Kontakt weiterhin aufrecht zu erhalten. Frodo dachte häufig an den alten Hobbit, schrieb ihm ebenso fleißig wie eh und je, doch seine Worte fielen ihm immer schwerer. Bei jedem Brief erwachte der Schmerz aufs Neue und mit ihm die Gewissheit, dass er Bilbos Liebe erst noch verdienen musste.
Manchmal wünschte er sich, er hätte damals nicht nachgefragt, bis die grausame Wahrheit ans Licht gekommen war. Er hatte gespürt, dass Bilbo sein Zuhause war, weshalb also hatte er dennoch eine Bestätigung seines Gefühls verlangt? Hatte er nicht einfach zufrieden sein können? Manchmal wünschte er sich, er könne wenigstens vergessen, dass jene Worte gefallen waren und weiterhin im Glauben leben, Bilbo würde ihn lieben, selbst wenn es eine Lüge war. Bilbos Briefe hatten ihm Mut gegeben, waren etwas, auf das er sich hatte freuen können. Jetzt vermisste er beides. Zwar erhielt er noch immer regelmäßig Nachrichten aus Hobbingen, doch brachten sie statt der Freude zerstörte Hoffnungen und daraus ließ sich keine Kraft schöpfen. Kraft, die er im Augenblick dringend benötigte, doch keiner ihm geben konnte.
Hinter ihm lachte Merry auf, schimpfte seine Mutter, sie würde ihn kitzeln und für einen kurzen Augenblick spähte Frodo zu ihnen. Einst hatte er geglaubt, Esmeralda wäre für ihn da, selbst wenn er das nicht sofort bemerkt hatte. Nun war er sich dessen nicht mehr so sicher. In den vergangenen Monaten war ihm klar geworden, dass ihr Merry schon immer wichtiger gewesen war. Frodo konnte ihr deshalb keinen Vorwurf machen, doch es schmerzte ihn dennoch. Sie mochte zwar bei ihm sein, war dies im Grunde aber nur, weil Merry auch hier war. Und selbst wenn sie sich um ihn kümmerte, tat sie das nur, wenn sie sich um ihn sorgte, nicht, weil sie ihn ebenso liebte wie Merry. Dennoch suchte er ihre Nähe, als wolle er seine Beobachtungen Lüge strafen. Er suchte ihre Nähe und wagte doch nicht, auf sie zuzugehen.

"Frodo?"
Der Junge war ungewöhnlich still geworden und als Esmeralda eine Hand auf seine Schulter legte, um nach dem Rechten zu sehen, spürte sie die Überraschung, die durch seinen Körper ging. Wie in einem Traum wandte er sich zu ihr um, den goldene Glanz des Feuers in den tiefblauen Augen. Sein Ausdruck war jedoch ein anderer, sprach von Traurigkeit, von Schmerz, die sich so deutlich in seinem Blick spiegelten, dass Esmeralda gezwungen war, die Luft anzuhalten. Ihre Hand schloss sich fester um seine Schulter, zog ihn zu sich.
"Was ist geschehen?", wollte sie fragen, doch Merry kam ihr zuvor und seine Worte ließen Frodo vor der Berührung zurückschrecken.
"Ich habe ihn gefunden", rief ihr Sohn freudestrahlend, "den Würfel, den wir gestern Nacht verloren haben."
Frodo wandte sich von ihr ab, verschloss die Kiste mit dem Briefpapier. Besorgt ließ sie ihren Blick auf ihm ruhen, doch was immer sie gesehen hatte, war aus seinem Gesicht gewichen. Sie blinzelte kurz, als könne sie sich dadurch vergewissern, nicht zu träumen, ehe sie sich zu Merry umdrehte. Ihr Sohn war bis zur Körpermitte unter seinem Bett verschwunden, wobei seine Hände den Boden abtasteten. Mit einem letzten Blick auf Frodo zog sie die Stirn kraus. "Gestern Nacht?"
Für den Bruchteil eines Wimpernschlags erstarrte Merry in seiner Bewegung und wäre Esmeralda nicht seine Mutter gewesen, hätte sie jenes kurze Innehalten nicht bemerkt.

"Es war gestern Abend", erklärte Frodo mit ruhiger Stimme, legte die Kiste mit dem Briefpapier ebenfalls auf das Bett und suchte nach dem Lappen. "Merry meint im Moment, alles was nach dem Abendessen stattfindet, wäre nachts."
Aus den Augenwinkeln erkannte er, wie sie ihn zweifelnd betrachtete, doch schenkte er ihr keine weitere Beachtung. Sie hatte ihn umarmen wollen und er wusste, dass er es zugelassen hätte. Doch der Augenblick der Schwäche war vergangen, der flüchtige Moment des Erkennens verstrichen und er hatte seine Fassung wiedererlangt, war entschlossen, Esmeralda keine Last aufzubürden, die zu tragen sie nicht bereit war.
"So ist es", erklärte Merry, wobei er wieder unter dem Bett hervor kroch. "Schließlich ist es ebenso dunkel wie nachts."
Als Frodo sich erhob, bemerkte er den dankbaren Blick seines Vetters, doch gelang es ihm nicht, diesem mit einem Lächeln zu antworten, denn ihm wurde plötzlich klar, dass Esmeralda ihn noch immer fragend ansah. Sein Herzschlag beschleunigte sich, ihm wurde eng um die Brust.
Und wenn er sich damals nicht geirrt hatte? Wenn sie ihn trotz allem so liebte, wie Merry, es nur nicht so offen zeigte? Wäre sie am Ende doch bereit, zumindest einen Teil seiner Bürde zu tragen?
"Bedrückt dich etwas, Kind?"
Sie hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt. Der Feuerschein zeichnete sanfte Schatten auf ihr Gesicht. Ein goldener Schimmer lag in ihren blauen Augen, die ihn eingehend musterten. Frodo spürte, wie die Maske der Stärke bröckelte und sein Geist sich erneut an einen letzten Hoffnungsschimmer zu klammern suchte, dem er doch nicht zu vertrauen wagte.
Mehr, als du dir vorstellen kannst.
Wie erstarrt sah er sie an, schluckte den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, während er insgeheim darauf wartete, dass sie ihn in ihre Arme schloss, ihm zeigte, dass er mehr war, als nur ein Kind, dessen sie sich angenommen hatte, da kein anderer dazu bereit gewesen war.

"Mama!"
Merrys energische Stimme drang an ihr Ohr und die Hand, die sie um Frodos Schultern hatte legen wollen, auf dass sie noch einmal mit mehr Feingefühl hätte nachfragen können, verharrte in ihrer Bewegung.
Frodo wandte sich von ihr ab, um den ersten seiner beiden Holzbehälter wieder im Nachtkästchen zu verstauen und Esmeralda wusste, dass was immer er geantwortet hätte, nun wieder tief verborgen lag und es gelang ihr nicht, den Ärger darüber aus ihrer Stimme zu halten.
"Was?"
Beinahe wäre es ihr gelungen, etwas mehr von Frodo zu bekommen, als die üblichen oberflächlichen und ausweichenden Antworten und sie musste sich zusammenreißen, Merry nicht die Schuld dafür zu geben, dass ihr dies erneut missglückt war.
"Hilfst du mir nun, die oberen Fächer einzuräumen?", wollte ihr Sohn wissen, den Blick ein wenig verunsichert auf sie gerichtet. "Ich kann sie nicht erreichen und an Frodos unteres Nachtkästchenfach darf ohnehin niemand ohne seine Erlaubnis. Ihm kannst du also nicht helfen, mir dafür umso mehr. Außerdem warst du es, die den Schrank ausräumen wollte."
Esmeralda seufzte schwer, beobachtete ernüchtert, wie Frodo auch die zweite Truhe an ihren Platz zurückstellte, ohne sich auch nur zu ihr oder Merry umzuwenden. Sie hatte ihre Möglichkeit vertan und selbst wenn sie ihren Sohn warten ließ, würde sich ihr keine Neue bieten - nicht heute. So strich sie sich schließlich die Haare aus der Stirn, holte einen ersten Wäschestapel von Merrys Bett und legte ihn zurück in den Schrank.


~*~*~


Das rote Schimmern der Glut war, abgesehen vom immerwährenden Schein unter der Tür, das einzige Licht, das den Raum erfüllte. Der Duft von Rosen hing an den frischen Laken, umschmeichelte die Nasen der Vettern, die sich darin zur Ruhe gelegt hatten.
"Du kannst nicht teilen", brach es plötzlich aus Frodo hervor. Den ganzen Abend hatte er an nichts anderes denken können, als an jenen flüchtigen Augenblick am vergangenen Nachmittag, den Merry so unbedacht zunichte gemacht hatte. Zwar war er wütend auf seinen Vetter, doch seine Worte waren nicht mehr als eine Feststellung, eine Feststellung, die er nicht länger für sich behalten konnte.
Der Rahmen von Merrys Bett knarrte und Frodo wusste, dass sein Vetter zu ihm herüberblickte. "Was meinst du damit?"
Frodo konnte die Verwirrung in der Stimme des Jüngeren hören und schüttelte den Kopf. Merry verstand nicht, hatte nie verstanden und Frodo wusste, dass es unweigerlich zum Streit kommen würde, wenn er seine Gedanken weiterhin preisgab. Wie schon zu früheren Zeiten würde Merry ihm vorwerfen neidisch und selbstsüchtig zu sein und Frodo wusste nicht einmal, ob die Anschuldigungen seines Vetters nicht ebenso der Wahrheit entsprachen, wie seine eigenen. Tief Luft holend, drehte er sich der Wand zu und hüllte sich in Schweigen.
Merry war jedoch nicht bereit, ihn wortlos davon kommen zu lassen, fragte noch einmal eindringlicher nach, was er ihm unterstellen wolle.
"Du kannst nicht teilen", wiederholte Frodo ausdruckslos, wandte sich schließlich doch seinem Vetter zu, wissend, dass er diesem Gespräch nicht entgehen würde, nun, da er es begonnen hatte. "Deine Eltern nicht mit mir und…"
Plötzlich erinnerte er sich an den vergangenen Sommer und wie oft Merry von ihm verlangt hatte, auf Nelkes Freundschaft zu verzichten. Mit einem Mal wurde ihm klar, dass Merry nicht nur unfähig war, die Liebe seiner Eltern zu teilen und die Verärgerung, die er zuvor geschluckt hatte, bemächtigte sich seiner Stimme. "… und mich nicht mit Nelke."
"Nelke?" Die Verwunderung Merrys hatte zu einem Augenblick der Stille geführt. "Ich dachte, ihr hättet euch getrennt?"
Frodo biss sich auf die Lippen, schloss gequält die Augen. Was tat er hier nur?
"Ist das wieder eine deiner Launen?", wollte Merry genervt wissen. "Bist du wieder einmal wegen etwas gereizt und brauchst jemanden, an dem du deine Wut auslassen kannst?"

Merry verdrehte die Augen, ließ sich auf sein Kissen fallen, nachdem er sich zuvor auf seinen Ellbogen gestützt hatte. Sein Vetter war in den letzten Monaten häufig grundlos wütend geworden und hatte sich deshalb nicht selten bei ihm entschuldigen müssen. Doch Merry war es leid, Ziel von Frodos Gereiztheit zu sein, wo er nicht einmal wusste, weshalb sein Vetter so angespannt war. Wenn er ihn darauf ansprach, führte es meist zu einer Diskussion wie dieser, in der Frodo seinen Sturkopf beweisen und das letzte Wort haben musste. Er hatte bereits überlegt, zu seinem Vater zu gehen, doch Frodo hatte einst gesagt, dass ihm das nichts helfen würde, womit er Recht behielt. Wie sollte sein Vater herausfinden, was mit Frodo war, wenn sein Vetter sich nicht einmal ihm anvertraute?
"Warum nehme ich nicht Merry?", äffte er missmutig. "Ich finde bestimmt etwas, das ich ihm vorwerfen kann. Was war es letzte Woche?", Merry machte eine kurze Pause, in der er nachdenklich zur Decke sah. "Ach ja, letzte Woche bemerkte ich, dass er zu besorgt ist, also muss es heute etwas anderes sein", wieder schüttelte er den Kopf. "Was fiel deinem Adlerauge heute auf, Frodo, dass du glaubst, ich könne nicht teilen?"

Frodo hatte sich von seinem Vetter weggedreht, doch mit jedem Wort loderte mehr Zorn in ihm auf. Merry mochte zwar sein bester Freund sein, doch manchmal hatte er keine Ahnung, was vor sich ging. Wenn sein Vetter es darauf anlegte, Salz in seine Wunden zu streuen, konnte er das auch tun. Er ballte die Hände zu Fäusten, wandte sich ruckartig zu Merry um und stützte sich auf.
"Du willst wissen was mir auffiel?", zischte er. "Ich werde es dir sagen. Du kannst es nicht ertragen, wenn Esmeralda mir für einen Augenblick näher ist als dir", presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Wut glomm in seinen Augen und seine Finger gruben sich in die Bettdecke. "Du musstest sie sofort zu dir zurückrufen, aus Angst, sie könnte auch mich lieben. Ebenso wie du versucht hast, mich von Nelke fern zu halten, weil du fürchtetest, ich könne in ihr einen weiteren Freund finden."
Kaum war das letzte Wort gesprochen, kniff Frodo die Augen zusammen. Seine keuchende Atmung zitterte. Soweit hatte er nicht gehen wollen. Sein Körper verkrampfte sich, als er sich für Merrys Gegenschlag rüstete.

"Wirst du jetzt vollkommen verrückt?"
Merry blickte entrüstet auf das schemenhafte Gesicht, das er in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. Seine Brust war wie zugeschnürt. Er wusste nicht, ob er zornig, schockiert oder verletzt sein sollte. Sein Mund öffnete sich, schloss sich wieder.
"Du hörst dich an, wie, wie…" Der Satz sollte nie beendet werden, denn Merry war zu empört, um einen Vergleich zu finden. Er konnte kaum glauben, was sein Vetter ihm vorwarf. Was war nur in ihn gefahren? Frodo war es gewesen, der seinen Eltern immer wieder ausgewichen war, wenn sie ihm abends eine gute Nacht hatten wünschen wollen. Frodo war es gewesen, der ihn darum gebeten hatte, all die Geheimnisse für sich zu behalten und vor allem seinen Eltern nichts davon zu erzählen und nun war er plötzlich neidisch auf ihn? Warf sogar ihm vor, eifersüchtig zu sein! Merry konnte seinen Vetter nur anstarren, wusste nichts zu antworten, bis sich ihm die Worte von selbst in den Mund legten.
"Ich sag dir was, Frodo: ich brauche keine Angst zu haben, dass Mama dir näher sein könnte als mir. Das wird sie niemals sein, denn sie ist meine Mutter und du hast keinen Anspruch auf sie."

Einen langen Augenblick starrte Frodo in die Dunkelheit vor sich. Merrys Worte brannten sich in sein Herz wie glühendes Eisen. Er hatte mit vielem gerechnet, doch damit nicht. Der Ellbogen, auf den er sich lehnte, drohte nachzugeben und so setzte er sich auf. Seine Finger krallten sich in die Matratze, als ein hilfloses Zittern ihn durchlief.
"Denkst du etwa, das wüsste ich nicht?", flüsterte er schwermütig. "Glaubst du, ich würde das nicht jeden Tag aufs Neue spüren?"
Dann stand er auf und stolperte mit weichen Knien zur Tür. Er musste hinaus, bevor er mehr sagen und sein Vetter mehr erwidern konnte. Er hörte noch, wie Merry seinen Namen rief, ehe ihn das Licht des Ganges willkommen hieß. Er eilte zur Haupteingangstür, vorbei an den behaglichen Wohnzimmern und Küchen. Manch einer sah ihm verwundert hinterher, ein anderer rief ihn zurück, doch Frodo hörte nicht auf sie, sondern rannte in die Nacht hinaus, hoffend, sein Vetter würde ihm nicht folgen.

Kalt wehte ihm der Wind entgegen, machte ihn frösteln. Sein Atem stieg in dünnen, weißen Wölkchen vor seinem Gesicht empor. Lampen, die im nun gefrorenen Boden steckten, erleuchteten den schmalen Pfad vor dem Schloss zu beiden Seiten. Doch ihr Licht war nur schwach und alles, was dahinter verborgen lag, verschwamm in Dunkelheit. Schwer atmend blieb Frodo stehen, lehnte sich gegen die massive, runde Holztür. Keine Schritte waren dahinter zu vernehmen. Merry war ihm nicht gefolgt. Erleichtert schloss er die Augen.
Merrys Worte hatten ihn tief getroffen, doch in seinem Innern wusste er, dass er es nicht anders verdient hatte. Er war es schließlich gewesen, der diesen Streit begonnen hatte und unzählige Wortgefechte davor. Was war nur aus ihm geworden? Wie hatte er zulassen können, dass es ihm immer leichter fiel, Streit mit seinem Vetter zu suchen? Merry war schließlich nicht an seiner Misere Schuld, wusste nicht einmal, dass er wieder in Marrocs Fänge geraten war.
Frodo schlang die Arme um die Brust und bibberte. Es war eine kalte, wolkenverhangene Nacht und sein dünnes Nachtgewand reichte nicht aus, um ihn warm zu halten. Hinein gehen wollte er aber noch nicht. Er war verletzt worden und selbst wenn er seine Worte bereute, wusste er, dass er wieder wütend werden würde, sollte Merry seine Entschuldigung nicht sofort annehmen. Kurzerhand entschloss er sich, Silberschweif einen kurzen Besuch abzustatten, begab sich zitternd auf den Weg um das Brandyschloss. Er ging östlich daran herum, wohl wissend, dass kaum jemand durch jene Fenster nach draußen sehen würde. Ein Knistern war zu vernehmen, wann immer seine Füße auf das gefrorene Gras traten. Die Kälte kroch seine Beine empor, bis sein ganzer Körper von einer Gänsehaut überzogen war. Der Wind pfiff in seinen Ohren und Frodo war erleichtert, als sich die Tür zum Ponystall mit einem protestierenden Ächzen und Knarren öffnete und er die kalte Nacht zumindest für einen Augenblick aussperren konnte.

Schlotternd hauchte er sich in die Hände, ging zaghaften Schrittes zur hintersten Box, als ein dumpfes Geräusch ihn herumfahren ließ.
"Hallo?", fragte er in die Dunkelheit, die Stimme unsicher. "Merry?"
Es war der erste Name, der ihm in den Sinn gekommen war. Der Wind pfiff durch die dünnen Spalten im Holz und Frodo fröstelte, doch nicht mehr nur vor Kälte. Unbehagen erfüllte seinen Magen. Da er sich auf seine Augen nicht verlassen konnte, schärften sich seine anderen Sinne. Die eigene Atmung klang laut in seinen Ohren. Er hörte den Schweif eines Ponys gegen die Box schlagen, während ein anderes der rostigen Wassertränke ein Quietschen entlockte. Frodos Körper verkrampfte sich, sein Herzschlag beschleunigte sich kaum merklich. Der Duft von Heu und Hafer kitzelte seine Nase und über den strengen, unvergleichlichen Geruch der Ponys bemerkte er noch einen anderen, den er in den vergangenen Monaten viel zu oft in den Ställen hatte wahrnehmen müssen: Pfeifenkraut.
Frodo sog scharf die Luft ein. "Marroc."

Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, sah er die groß gewachsene Gestalt auf sich zukommen. Ihre Schritte erzeugten kaum ein Geräusch und Frodo spürte die Furcht, die dazu führte, dass sich die feinen Härchen auf seinem Nacken aufrichteten.
"Du bist gut, Beutlin", ließ ihn eine Stimme wissen, "aber nicht gut genug."
Frodos Herz sank. Die Zeit der Ruhe war vorüber. Er würde einen neuen Auftrag erhalten. Wie in Stein gemeißelt blieb er stehen, die Hände zu Fäusten geballt, den Kopf gesenkt. Er schloss die Augen, als Marroc sich vor ihm aufbaute, eine Hand auf seine Schulter legte und so lange zusammendrückte, bis es wehtat. Es war zu einem Ritual geworden. Bei jedem Zusammentreffen würde Marroc ihm auf die eine oder andere Weise Schmerzen zufügen, doch Frodo hatte gelernt, dies nicht in seinem Ausdruck sichtbar werden zu lassen. Jammerte er oder verzog er auch nur eine Miene, würde Marroc Gefallen daran finden und sein Spiel fortführen. Ließ er sich hingegen nichts anmerken, verlor sein Peiniger rasch die Lust und schickte ihn weg.
"Du dachtest wohl, du würdest mir entgehen, wenn du davon läufst", zischte Marroc und Frodos Muskeln spannten sich unweigerlich fester an. "Denk nicht, ich hätte dich nicht gesehen. Eines kann ich dir sagen: wenn du noch einmal wegrennst, wird dein kleiner Schützling dafür bezahlen müssen."
Frodo biss sich auf die Lippen, fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Marroc seine Drohung wirklich umsetzen würde. Eine Antwort fand er jedoch nicht, ebenso wenig wie er wagte, es herauszufinden. Dazu war ihm Merimas zu teuer. Dazu traute er Marroc zuviel zu.
Erschrocken schnappte er nach Luft, als sich Marrocs Hand plötzlich um seinen Hals legte und er gezwungen war, zu dem Älteren aufzusehen. Er roch nach Schweiß, Pferdemist und Tabak. Frodos Hand umklammerte das Handgelenk seines Peinigers, hoffend, die Angst, die durch seine Glieder jagte, zeige sich nicht in seinen Augen.
Marroc verzog die Lippen zu einem Lächeln, das das Blut in Frodos Adern gefrieren ließ. Seine linke Hand wanderte hinter seinen Rücken. "Bis übermorgen hast du mir neues Kraut besorgt, oder dein kleiner Freund…"
Frodo war des Schnitzmessers seines Peinigers nicht gewahr, bis der kalte Stahl über seine Wange strich. Kaum merklich zuckte er zusammen, wobei seine Augen jeder Bewegung des Messers angstvoll folgten. Marroc verletzte ihn nicht, ließ die Klinge nur über seine Haut wandern und ergötzte sich an der Furcht, die Frodo nicht länger verbergen konnte. Seine Hand schloss sich fester um das Gelenk des Älteren, bis dieser plötzlich von ihm abließ, das Messer wegsteckte und sich umwandte.
"Übermorgen", wiederholte er drohend, während er zur Tür ging und Frodo ihm mit zitternden Knien und klopfendem Herzen hinterher blickte.





<< Back

Next >>

Leave Review
Home     Search     Chapter List