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Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Kapitel 60: Geheime Gänge



Am nächsten Tag saß Frodo wieder auf der Holzbank vor dem Kachelofen und lehnte den Kopf mit einem Kissen an die warmen Kacheln, wie er es in den vergangenen Nachmittagen ständig getan hatte. Die Wärme und das schwache Licht der Kerzen an den Wänden ließ ihn schläfrig werden. Es hatte wieder zu schneien begonnen und draußen war es noch kälter als am vergangenen Tag und so genoss er die Wärme der Kacheln und die beruhigende Atmosphäre des Wohnzimmers, das sich heute scheinbar keiner großen Beliebtheit erfreute. Nur wenige Frauen saßen an einem Tisch zusammen, tranken Tee und tauschten sich über den neusten Klatsch aus. Hanna, Adamanta und Hilda saßen ebenfalls nahe dem Kachelofen, alle drei mit Nadel, Faden und zerrissenen Kleidungsstücken ihrer Kinder oder Ehemänner bewaffnet. Auch sie unterhielten sich leise, doch Frodo beachtete sie kaum. Seine Aufmerksamkeit galt Gorbadoc, der sich, wie schon am Vortag, in seinen Schaukelstuhl gesetzt hatte und die Geschichte vom Fastitokalon zum Besten gab. Berilac saß auf seinem Schoß und blickte begeistert zu seinem Urgroßvater auf, während Merimas, Minze und viele andere Kinder zu seinen Füßen saßen.
Frodo mochte die Geschichte um den riesigen Schildkrötenwalfisch, hatte sie schon unzählige Male von Gorbadoc gehört und war dabei nicht selten selbst auf seinem Schoß gesessen. Das Fastitokalon, ein großer Schildkrötenwalfisch, wurde von den Menschen für eine Insel im Meer gehalten und so hatten sie ihr Lager auf dem Rücken des Tieres aufgeschlagen. Der Fisch wurde jedoch durch das Feuer, das die Menschen auf seinem Rücken entzündet hatten, aufgeschreckt und tauchte in die Tiefe, woraufhin die Menschen mit all ihrem Hab und Gut im Meer versanken.
Es war eine alte Legende, die unter den Hobbits schon seit vielen Generationen erzählt wurde, und Frodo wusste nicht, wie viel davon tatsächlich wahr war, doch ihm gefielen Gorbadocs Ausschmückungen und die Art und Weise, wie er die Geschichte präsentierte.

Als Gorbadoc zu Ende erzählt hatte, setzte Frodo sich auf und streckte sich, wobei er ein genüssliches Gähnen nicht unterdrücken konnte. Hanna schielte zu ihm herüber und lächelte kurz. Frodo erwiderte das Lächeln zögernd, eilte dann aus dem Wohnzimmer und machte sich auf den Weg in die Bibliothek. Merry ging es noch nicht besser und Frodo wollte sich die Zeit mit einem Buch vertreiben. Er nahm einen Kerzenhalter vom Regal, das an der rechten Wand des Ganges angebracht war und zündete die Kerze an, ehe er vorsichtig den Türknauf drehte und von dem willkommenen Geruch und der Dunkelheit der Bibliothek begrüßt wurde.
"Du bist schon wieder allein", ließ ihn eine Stimme hinter sich wissen.
Frodo zuckte kaum merklich zusammen, bevor er sich zu Nelke umdrehte, die mit dem Rücken gegen die Wand lehnte und die Hände vor der Brust verschränkt hielt.
"Ich habe dir bereits gesagt, dass ich gerne alleine bin", erklärte er nicht unfreundlich. "Außerdem bist du hier und somit bin ich nicht allein."
Nelke lächelte und kam auf ihn zu.
"So soll es auch sein", behauptete sie, als sie über seine Schulter hinweg in die Bibliothek blickte und die Nase rümpfte. Ihre braunen Locken hatte sie zu zwei Zöpfen geflochten, die nun locker auf ihren Schultern lagen. Sie trug ein schlichtes grünes Kleid über einer weißen Bluse.
Während sie neben ihm stand und in die Dunkelheit der Bibliothek sah, bemerkte Frodo plötzlich, dass er sie anstarrte und wandte verlegen den Blick von ihr ab. Was war mit ihm geschehen? Seit dem gestrigen Nachmittag hatte er immer wieder an Nelke denken müssen und nun starrte er sie auch noch an. Sie mochte vielleicht im Augenblick nett sein, doch er durfte nicht vergessen, wie sehr sie ihm für gewöhnlich auf die Nerven ging. Ob Merrys Krankheit dabei eine Rolle spielte? Hatte sie Mitleid mit ihm und war deshalb freundlicher, tauchte auf, wo immer er auch hinging?
"Willst du denn nicht hineingehen?", fragte sie plötzlich. "Von mir solltest du dich nicht abhalten lassen. Ich komme gerne mit dir."
Frodo zog ein wenig verwirrt eine Augenbraue hoch, sah sie kurz an und trat dann in die Bibliothek, wobei er seinen Blick über die Regale voller Bücher schweifen ließ. Nur schwach ließ das Licht die vielen Buchrücken schimmern und so entzündete Frodo zwei weitere Kerzen, die zu beiden Seiten der Tür an den Wänden hingen. Er musste auf die Zehenspitzen stehen, um sie zu erreichen und Nelke kicherte verstohlen in sich hinein, was Frodo schweigend zur Kenntnis nahm, schließlich war sie nicht viel größer, als er selbst. Anschließend trat er an den großen Tisch, um den zehn Stühle standen, und entzündete die drei Kerzenhalter, die darauf platziert worden waren. Es war unglaublich, was das zusätzliche Licht bewirkte.
Die Regale, die zu allen Seiten des Raumes standen, schienen ihm beinahe einladend entgegenzulachen und auch, wenn bei weitem nicht alle dieser Regale mit Büchern und Schriftrollen gefüllt waren, war es doch die größte Bibliothek, die Frodo kannte und er liebte es, hier zu sein. Er seufzte zufrieden und holte tief Luft. Wie sehr er diesen Geruch doch liebte! Leder, vergilbtes Papier und altes Pergament gehörten ebenso zum eigentümlichen Geruch der Bibliothek, wie der Duft von Holz und Staub.
Ohne zu zögern ging er auf eines der Regale zu und ließ seine Finger über die gebundenen Buchrücken wandern, ehe er ein Buch mit dem Titel Das Auenland - Gründung und Entwicklung herauszog und es interessiert begutachtete. Auch hier strich Frodo mit seinen Fingern über den Einband, ehe er das Buch vorsichtig aufschlug und die erste Seite kurz überflog. Er hatte in letzter Zeit einiges über die Geschichte des Auenlandes gelesen, ein Bereich, der in der Bibliothek des Brandyschlosses besonders ausführlich behandelt wurde, doch er war sich nicht sicher, ob er sich dieses bestimmte Buch bereits zu Gemüte geführt hatte.

"Ich frage mich wirklich, was an all dem so interessant sein soll, dass du immer wieder hierher kommst."
Frodo blickte von seinem Buch auf und wandte sich um. Nelke stand am anderen Ende des Zimmers, legte gerade eine Rolle, die die Stammbäume einer Hobbitfamilie enthielt, wieder in eines der Regale und fröstelte. Sie schlang die Arme um die Brust, als ein Zittern ihren Körper durchlief.
"Es ist kalt, es ist staubig und es ist dunkel, trotz der vielen Kerzen", klagte sie, ehe sie den Kopf fragend in seine Richtung drehte. Ein goldener Schimmer lag auf ihrem Haar und ihre Augen funkelten im flackernden Licht der Kerzen.
Frodo lächelte von einem Ohr zum anderen, schüttelte kurz den Kopf, schlug das Buch zu und verstaute es wieder im Regal. Er nahm seine Hand jedoch nicht vom ledernen Einband und ließ seine Augen lange darauf ruhen. Eine Stille erfüllte das Zimmer, die Frodo wie einen Mantel einzuhüllen schien und Nelke unruhig werden ließ.
"Es sind die Bücher, die den Raum ausmachen", sagte er dann gedankenverloren und ging verträumt am Regal entlang, wobei seine Finger weiterhin über die ledernen Buchrücken strichen.
Nelke zog fragend eine Augenbraue hoch und strich ebenfalls gedankenverloren über einige Bücher, als könne sie Frodos Worte dadurch einfangen und ihr Unbehagen abschütteln.
"Sie sind es, die dem Raum die nötige Weisheit geben, die ihn mit grenzenloser Freiheit erfüllen, denn nur mit Hilfe der Geschichten kann unser Geist der Enge hier entfliehen. Die Bücher sind es, die dem Raum Erinnerungen geben, eine Vergangenheit, ebenso wie eine Zukunft, denn die Stammbäume werden mit jedem neugeborenen Kind erweitert. Selbst der Geruch der Bücher haftet an diesem Raum, wie an keinem anderen und alleine dieser Geruch erzählt eine Geschichte, noch ehe du in den Seiten eines Buches blätterst."
Frodo war in der Ecke angekommen und sah mit fernem Blick am Regal empor. Schließlich blinzelte er, als würde er aus einem Traum erwachen und blickte auf seine Finger, die mit einer dünnen Staubschicht bedeckt waren. Ohne sich von der Stelle zu bewegen, wandte er sich dann zu Nelke um, sah sie beinahe verwirrt an.

Frodo liebte Bücher und ihm war, als hätten sie selbst ihm die Worte in den Mund gelegt, die sie zuvor aus seinem Herzen gestohlen hatten. Er war sich sicher, dass es die Bücher waren, die der Bibliothek ihre Geschichte gaben, doch sie taten es nicht allein. Jener, der in den Büchern las, machte die Bibliothek und deren Inhalt ebenso aus, wie die Bücher selbst. Der Leser war Teil dieser Geschichte, Teil der Faszination, die die Bibliothek für ihn ausstrahlte. Ob Nelke das verstand? Ob er es selbst verstand? Frodo wusste es nicht, denn seine eigenen Worte begannen bereits zu verblassen und, hätte Nelke ihn darum gebeten, er hätte sie nicht wiederholen können.

Nelke sah ihn verwundert und entgeistert zugleich an. Während seine Worte in ihren Ohren klangen, schien sie wie erstarrt. Das flackernde Kerzenlicht hüllte ihn in einen rötlichen Schimmer und sie begann sich zu fragen, ob Frodo wirklich verstand, was er soeben gesagt hatte. Sie selbst war sich nicht wirklich sicher, was seine Worte genau zu bedeuten hatten, denn sie hatte sich nie sonderlich für Bücher interessiert. Sie war praktischer veranlagt und verbrachte lieber einige Stunden damit, Bettwäsche zu besticken oder einen Schal zu stricken, anstatt über Bücher nachzudenken oder gar eines von ihnen zu lesen. Alles, was in dieser Hinsicht wichtig war, wurde ihr ohnehin in den Unterrichtsstunden beigebracht, auch wenn sie damit nicht viel anfangen konnte. Was brachten ihr Bücher und Worte, wenn sie stattdessen lernen konnte, wie sie Kleider zu nähen und Essen zu kochen hatte?
Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und Nelke war überrascht, in Frodos Augen dieselbe Verwirrung zu lesen, die sie empfand. Verwundert runzelte sie die Stirn, nickte aber.
"Das mag sein", sagte sie schließlich, trat an den Tisch heran und blies die Kerzen aus, "aber kalt bleibt es hier trotzdem. Lass uns gehen!"

Ein Lächeln stahl sich über Frodos Lippen, als auch ihm die Kälte, die ebenso Teil der Bibliothek war wie die Bücher, durch die Glieder kroch und ihn zum Frösteln brachte. Die Lust auf ein Buch war ihm vergangen und stattdessen musste er, sehr zu seiner Verwunderung feststellen, dass er froh darüber war, mit Nelke hier gewesen zu sein, und dass er ihre Anwesenheit schätzte. Sie mochte eine Nervensäge sein, doch im Augenblick schien sie genauso gelangweilt wie er. Was sprach also dagegen, wenn er ein wenig Zeit mit ihr verbrachte, zumindest bis Merry wieder gesund war? Bisher hatte sie immerhin bewiesen, dass sie auch nett sein konnte, auch wenn ihm bei dem Gedanken an den vergangenen Nachmittag noch immer etwas mulmig wurde und seine Wangen sich erwärmten.
Nickend kam er schließlich aus der hinteren Ecke der Bibliothek hervor, half ihr, die letzten Kerzen auszupusten und trat schließlich wieder in den Gang hinaus, wo er auch die Kerze auf seinem Halter auspustete. "Und wohin sollen wir gehen?"
Nelke grinste von einem Ohr zum anderen.
"Das wirst du gleich sehen", meinte sie verschwörerisch. "Komm mit!"
Mit diesen Worten eilte sie den Gang entlang und Frodo blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

"Die Bibliothek ist der Ort, an den du dich bei solchem Wetter zurückziehst", erklärte Nelke, während sie Frodo in die westlichen Gänge des Brandyschlosses führte. "Nun möchte ich dir meinen Lieblingsplatz zeigen."
Frodo lächelte in sich hinein. Er hatte die Bibliothek nie als seinen Lieblingsplatz im Brandyschloss angesehen, doch wenn er genauer darüber nachdachte, konnte Nelke damit sogar Recht haben, schließlich war er wirklich gerne dort und zog sich nicht selten darin zurück. Dennoch war wohl sein Zimmer mehr ein Lieblingsplatz für ihn, denn dort hatte er alles, was ihm wichtig war: das Bild seiner Eltern, sein Tagebuch, Erinnerungen, die selbst nach so vielen Jahren noch immer an den Wänden hafteten, und zumindest ein wenig das Gefühl, zu Hause zu sein. Bei dem Gedanken an ein Zuhause wurde ihm das Herz schwer und für einen Augenblick biss er sich auf die Lippen, denn jener Gedanke rief zugleich die Erinnerung an Bilbo wach. Bilbo, der ihn geliebt und ihn dann mit seinen Worten so sehr verletzt hatte. Frodo schluckte den Knoten, der sich in seinem Hals bildete und versuchte, den Gedanken an Bilbo abzuschütteln. Nelke hatte ihm bereits am vergangenen Nachmittag aufgezeigt, dass sie sich um ihn sorgte und er wollte verhindern, dass sie dies weiterhin tat. Mit einem tiefen Luftholen gelang es ihm, sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Frodo warf einen kurzen Blick auf Nelke, die ihm einen Schritt voraus war, um ihn an ihr gewünschtes Ziel zu führen, und wusste, dass sie von der Traurigkeit, die ihn überkommen hatte, nichts bemerkt hatte.
Er würde sie in dem Glauben lassen, er ziehe sich in die Bibliothek zurück, denn es interessierte ihn ungemein, wo wohl ihr Lieblingsplatz, der Lieblingsplatz eines Mädchens, sein konnte. Während er sich noch fragte, wo Nelke sich gerne aufhalten könnte, öffnete das Mädchen eine Tür und verschwand im dahinter liegenden Zimmer.

Frodo blieb überrascht in der Tür stehen, als er erkannte, wohin sie ihn geführt hatte. Ein mulmiges Gefühl machte sich in seinem Magen breit und er ertappte sich dabei, wie er sich verstohlen nach beiden Richtungen umblickte. Seine Nackenhaare sträubten sich und ehe er wusste, was er tat, war er einen Schritt von der Tür zurückgetreten.
"Hast du vor, in der Tür Wurzeln zu schlagen, oder willst du endlich herein kommen?", wollte Nelke wissen, die bereits zum Bett an der rechten Wand des Raumes gelaufen war und ihn nun, verwundert darüber, dass er nicht mehr hinter ihr war, mit in Falten gelegter Stirn, betrachtete.
"Das ist dein Zimmer", stellte Frodo leise zögernd fest und schluckte dann schwer, "und das von Reginard."
"Ist das ein Problem?", fragte Nelke, nicht recht verstehend, worauf er mit seiner Bemerkung hinaus wollte. "Wenn du dir um Reginard Sorgen machst, kann ich dich beruhigen. Der ist nur hier, um zu schlafen. Wo er den Rest des Tages verbringt, weiß ich nicht."
Frodo rührte sich nicht von der Stelle, blickte sich stattdessen noch einmal nach beiden Seiten um. Er konnte sich gut vorstellen, wo Reginard den Tag verbrachte. Vermutlich saß er gleich zwei Türen weiter in dem Zimmer, das sich Marroc mit seinen Eltern teilte, und machte sich über ihn lustig.
"Sollte er dir jedoch zu Nahe kommen, werde ich ihn grün und blau prügeln."
Reginards Drohung klang in seinen Ohren, ließ Frodo einen kalten Schauer über den Rücken laufen. Was Reginard wohl mit ihm machen würde, sollte er ihn in dem Zimmer vorfinden, das er sich mit seiner Schwester teilte? Frodo würde mindestens die doppelte Tracht Prügel erhalten, weil er die Dreistigkeit besessen hatte, das Zimmer des älteren Hobbits zu betreten. Ein weiterer Schauer lief ihm über den Rücken. Ihm war noch lebhaft in Erinnerung, wie schlecht er sich gefühlt hatte, als er von Marroc verprügelt worden war und wollte nicht riskieren, dass so etwas noch einmal geschah. Sollte Marroc eine Prügelei beginnen, würde er sich verteidigen, aber keineswegs wollte er weitere Prügel heraufbeschwören, weder von Marroc, der seinem Vetter bestimmt zur Seite stehen würde, noch mit Reginard.
Nelke war inzwischen wieder auf ihn zugekommen und musterte ihn eingehend. Die leichte Blässe in seinem Gesicht entging ihr dabei nicht.
"Hast du etwa Angst?", fragte sie und auch wenn ihre Stimme mitfühlend klang, lag der Schatten eines Grinsens auf ihrem Gesicht.
"Natürlich nicht!" ließ Frodo sie wissen und warf ihr einen beleidigten Blick zu, überrascht, dass seine Stimme nicht halb so viel zitterte, wie er befürchtet hatte.
"Na dann, komm. Reginard wird nicht auftauchen. Vertrau mir."
Frodo sah sie einige Augenblicke schweigend an, unwillig, seine Angst zu zeigen. Er wusste nicht, ob er ihr vertraute, aber schließlich trat er ein. Nelke schloss die Türe hinter ihm und auch wenn das mulmige Gefühl in Frodos Magen bestehen blieb, schien mit dem Schließen der Tür ein Großteil seiner Angst von ihm abzufallen. Er seufzte erleichtert und Nelke kicherte, als sie wieder zu dem Bett auf der rechten Seite des Raumes eilte.

Etwas unsicher blickte Frodo sich um. Das Zimmer war nicht sonderlich groß, doch schien es klar in zwei Hälften geteilt worden zu sein. Während Nelke offenbar die rechte Seite des Raumes bewohnte, hauste Reginard auf der Linken. Frodo trat unwillkürlich einen Schritt nach rechts, um keinem von Reginards Eigentum zu Nahe zu kommen. Die Betten standen zu beiden Seiten auf Höhe der Tür an den Wänden. Daneben stand jeweils ein Nachtkästchen, das mindestens doppelt so groß war wie jenes, das Frodo in seinem Zimmer stehen hatte und genauso gut als kleines Regal hätte dienen können. Nelke hatte auf ihrem Nachttisch eine kleine Laterne stehen, ebenso eine Schüssel mit Wasser und einem Tuch, mit dem sie sich morgens und abends wusch. Frodo war froh, dass sich sein eigenes Zimmer nicht weit vom östlichen Badezimmer befand und er deshalb keine Wasserschüssel in seinem Zimmer stehen hatte. Er wusste nicht, wo er sie würde hinstellen können. Neben der Laterne lagen ein Wollknäuel aus grünem Faden und die ersten Reihen eines gestrickten Schals. An der Wand, die der Türe gegenüber lag, stand ein großer Schrank, an dessen Seiten, links und rechts jeweils ein Schreibtisch mit einem Stuhl platziert worden war. Auf beiden Schreibtischen standen ein wunderschöner Federhalter mit zwei Schreibfeder und zwei kleinen Fässchen Tinte daneben.

"Frodo?"
Der junge Hobbit unterbrach seine Begutachtung des Zimmers, als Nelke ihn an ihre Seite rief. Das Mädchen saß hinter dem Fußende ihres Bettes am Boden und lehnte sich gegen die Wand. Die Laterne, die zuvor auf ihrem Nachttisch gewesen war, hatte sie entzündet und neben sich gestellt. Verwundert runzelte Frodo die Stirn, als er zu ihr trat und sich ebenfalls auf den Boden kniete. Ein Knauf, wie der einer Türe, war an der Wand befestigt worden und Frodo erkannte voller Staunen, dass es sich dabei tatsächlich um einen Türknauf handelte. An der Wand zwischen Nelkes Bett und ihrem Schreibtisch war eine kleine Tür. Sie war gerade so hoch, dass ein ausgewachsener Hobbit bequem hindurch kriechen konnte, doch wo sie hinführte, oder wie sie hierher gelangt war, wusste Frodo nicht.
"Was…?", stotterte er verwundert und deutete mit einem völlig verdutzt Gesichtsausdruck auf den Messingknauf.
Nelke strahlte von einem Ohr zum anderen, offensichtlich zufrieden mit dem fassungslosen Blick, den Frodo ihr schenkte.
"Das ist der Gang zu meinem Lieblingsplatz", erklärte sie dann stolz und ihre Augen leuchteten vor Freude.

Mit einem geschickten Handgriff drehte sie den Knauf und öffnete die niedere Tür, die Frodo gar nicht bemerkt hätte, hätte Nelke ihn nicht auf den Messingknauf aufmerksam gemacht. Erst jetzt erkannte er auch die Messingscharniere, die es erlaubten, die Türe zu öffnen und seine Verwunderung wuchs noch. Er erinnerte sich plötzlich daran, wie er vor langer Zeit in einer der Speisekammern mit Merry nach einem geheimen Gang, der geheimen Drachenhöhle, gesucht hatte und das Herz schlug ihm plötzlich bis zum Hals. Damals hatten sie nichts gefunden, doch offensichtlich gab es doch geheime Gänge im Brandyschloss, von denen niemand etwas wusste. Aufgeregt verfolgte er, wie Nelke die Laterne in die Hand nahm, in die Höhle kroch und ihn anwies, ihr zu folgen. Frodo kam dieser Bitte gerne nach und kroch aufgeregt hinter ihr durch die Tür, ohne auch nur einen einzigen Blick zurück zu werfen.
Der Gang war schmal und niedrig, doch Frodo konnte bequem hinter Nelke her kriechen. Die Flamme im Innern der Laterne flackerte unruhig und erleuchtete den Gang von allen Seiten. Immer wieder drang ein Klappern und Klirren an sein Ohr, wenn Nelke mit der Lampe den Boden streifte und auch das leise Rascheln ihrer Röcke war sein ständiger Begleiter, während sie ihn immer tiefer in den geheimen Gang führte.
"Der geheime Gang, der zum Hort des Drachen führt", flüsterte er andächtig, während er jeden Moment aus Bilbos Geschichte vor sich sah.
Dieses Mal war es nicht nur ein Mauseloch. Dieses Mal war es ein geheimer Gang. Frodos Mund war trocken. Er spürte die Anspannung und Aufregung in seinem ganzen Körper, während er vorsichtig hinter Nelke und dem flackernden Licht ihrer Lampe her kroch, immer damit rechnend, jeden Augenblick den Drachenhort und Berge von Gold und Juwelen zu erblicken.
"Du wirst niemals aufhören, an Drachen zu glauben, nicht wahr?", stellte Nelke mit einem Lächeln in der Stimme fest. "Wir sind da."

Der Gang machte plötzlich eine Biegung nach links. Bei näherem Betrachten erkannte Frodo jedoch, dass der Gang hier zu Ende und, was er ursprünglich für eine Abzweigung gehalten hatte, nur die äußere Ecke eines kleinen Raumes war. Der Raum selbst war nicht viel größer als ein besonders großes Doppelbett und auch nicht sonderlich höher als der Gang, durch den sie hierher gelangt waren, doch konnten sie sich, ohne sich dabei den Kopf zu stoßen, bequem auf die Wolldecke setzen, die Nelke bei einem ihrer früheren Besuche hierher mitgebracht haben musste. Nelke machte es sich am anderen Ende des kleinen Raumes bequem, während Frodo seinen Blick durch den vermeintlichen Drachenhort schweifen ließ. Es gab kein Gold, keine Juwelen und auch vom Drachen fehlte jede Spur, doch Frodo war weniger enttäuscht als er erwartet hatte. Immerhin war er durch einen geheimen Gang hierher gelangt und dies war ein geheimer Raum, von dem niemand etwas wusste, und wer konnte schon sagen, ob es nicht noch mehr solche geheimen Räume gab? In einem war bestimmt der Schatz eines Drachen versteckt.

Frodo nickte zufrieden, überlegte sich bereits, wo er mit seiner Suche nach geheimen Gängen am besten beginnen sollte, als er es sich schließlich auf der Decke gemütlich machte, die Arme demonstrativ vor der Brust verschränkte und konterte: "Du wirst wohl niemals aufhören, sie als Geschichten zu sehen. Es ist eine Schande, dass ausgerechnet du, die das nicht zu würdigen weiß, einen solchen geheimen Gang haben sollst."
Nelke zog eine Augenbraue hoch und sah ihn vielsagend an. Bedrohliche Schatten ragten hinter ihr an der Wand empor, als sie die Laterne zwischen sich und Frodo auf die Decke stellte. Das schwache Licht ließ ihre Augen funkeln. "Glaube mir, ich weiß ihn sehr wohl zu würdigen."
"Wenn das mein Gang wäre, würde ich ihn vor allen Augen schützen und niemand würde je davon erfahren", ließ Frodo sie geistesabwesend wissen. Er fragte sich, ob wohl in seinem Zimmer auch ein solcher Gang war und was er damit alles machen konnte. Gleich heute Abend wollte er sich auf die Suche danach begeben und nur Merry würde er von dem geheimen Gang erzählen.
"Und wie würdest du das anstellen?", fragte Nelke ungeduldig und dieses Mal war es an ihr, die Arme vor der Brust zu verschränken.
Frodo grinste listig.
"Ich ließe mir schon etwas einfallen", teilte er ihr mit. Seine Augen glitzerten im Licht der Lampe und als Nelke dies auffiel, stahl sich ein unbemerktes Lächeln über ihre Lippen. "Ich wünschte, ich könnte mein Zimmer gegen deines tauschen."
"Liebend gerne!" rief Nelke lachend aus. Ein verträumter Ausdruck trat in ihre Augen, als sie den Kopf schief legte und den Blick auf die tanzenden Schatten an der Decke gerichtet hielt. "Mein eigenes Zimmer. Dann dürftest du dich mit Reginard herum schlagen."

Frodo starrte sie entgeistert an. Das Grinsen in seinem Gesicht war mit einem Mal verschwunden und das mulmige Gefühl in seinem Magen, das er beim Betreten des Ganges vollends hinter sich gelassen hatte, kehrte zurück. Wenn Reginard ihn hier erwischte, dann würde er sich mit ihm herum schlagen müssen und dies in einem anderen Sinne, als es Nelke gemeint hatte. Frodo war sich sicher, dass er dabei würde einstecken müssen, denn auch wenn Reginard nicht Marroc war, so war er doch dessen Vetter und fünf Jahre älter, als er selbst. Er erschauderte alleine beim Gedanken daran und wandte rasch den Blick von Nelke ab, sah stattdessen auf seine Finger, die sich in die weiche Decke gruben.

Auch Nelke wandte erschrocken den Blick ab, als sie den entsetzten Ausdruck in seinen Augen sah. Sie erinnerte sich plötzlich, wie ihr Bruder Frodo gedroht hatte, ihn zu verprügeln und für einen Augenblick glaubte sie, derselbe zornige, erschrockene Blick von damals spiegle sich in Frodos Augen wider und sie bereute ihre Worte.
"Verzeih", wisperte sie und spielte verlegen mit einem ihrer Zöpfe ohne Frodo jedoch anzublicken. Für einen langen Augenblick herrschte Schweigen. Nelke wartete unruhig darauf, dass Frodo etwas sagte, doch als ihr klar wurde, dass er das Schweigen nicht brechen würde, hob sie zögernd den Kopf. "Es tut mir Leid, meine Worte waren schlecht gewählt."

Das Licht erhellte nur eine Hälfte seines Gesichtes, ließ die andere in Dunkelheit verschwimmen, doch auch in diesem schwachen Lichtschein konnte sie den verletzten Ausdruck in seinen Augen sehen und es schmerze sie, zu wissen, dass sie einen Teil der Schuld dafür trug.
Frodo rührte sich nicht. Seine Finger gruben sich noch immer in die Decke und für kurze Zeit fühlte er sich unfähig, etwas zu erwidern. Sie hatte nichts Böses getan, weshalb also versetzte ihn ihre Aussage so sehr in Schrecken? Reichte nun schon ein Name aus, um ihn zu ängstigen? Doch was er nun fühlte, war nicht nur Angst. Nur langsam wurde Frodo klar, dass Nelkes Worte an jener Traurigkeit gerüttelt hatten, die er seit Monaten mit sich trug und zu unterdrücken suchte. Bilbos Worte hatten ihn tiefer verletzt, als er sich selbst gegenüber zugeben wollte. Bilbo liebte ihn nicht, ebenso, wie alle anderen Bewohner des Brandyschlosses, abgesehen von Merry, und Reginard ging, genau wie Marroc, noch einen Schritt weiter. Sie hassten ihn und würden ihn nur mit Freuden verprügeln und bestimmt waren sie nicht die Einzigen, die so über ihn dachten. Es gab genügend andere, die ihm wortlos aus dem Weg gingen und Frodo zweifelte nicht daran, dass sie an Marrocs Seite kämpfen würden, sollte dieser sie darum bitten. Er war allein, ungeliebt an einem Ort, der nicht sein Zuhause war. Nelkes ungeschickte Aussage hatte ihm das wieder klar gemacht und Frodo spürte bereits, wie sich die Verzweiflung darüber erneut in ihm ausbreitete. Er wollte nicht verzweifelt sein, wollte seine Traurigkeit und seine Angst besiegen, doch wann immer er es versuchte, wurde er von ihr überwältigt und Frodo fragte sich oft, ob die Wunde, die Bilbo ihm zugefügt hatte, jemals heilen würde. Im Augenblick war ihm, als risse sie neu auf, wann immer er glaubte, vergessen zu können.

"Es muss dir nicht Leid tun", sagte er schließlich leise, hob zögernd den Kopf und holte tief Luft. "Ich sollte mich bei dir entschuldigen. Du hast nichts Falsches gesagt, es ist nur, dass ich…", er zögerte, wohl wissend, dass er ihr eine Antwort schuldig war. "Im Augenblick gibt es viele Dinge, die mich beschäftigen. Möglicherweise denke ich zuviel darüber nach, doch ich kann es nicht verhindern."
Nelke nickte, wobei sie ihm tief in die Augen sah und enttäuscht feststellen musste, dass das Leuchten, das sie für einen Moment in seinem Blick hatte erkennen können, wieder erloschen war.
"Hat es etwas mit Reginard zu tun?", wollte sie wissen und Frodo wusste sofort, auf welches Ereignis sie hinaus wollte.
Er schüttelte den Kopf und versuchte zu lächeln, überrascht, dass auch sie noch immer an jenen Tag am Fluss denken musste. Schon damals hatte er sich bei ihr bedanken wollen, doch bis zum heutigen Tag hatte er dies nicht getan, da er auf einen geeigneten Zeitpunkt hatte warten wollen, einen Moment, an dem sie ihm nicht auf die Nerven ging. Frodo entschied, dass dies ein guter Augenblick dafür war.
"Ich", begann er stockend und senkte für einen kurzen Moment den Kopf, nur um sie gleich darauf wieder anzusehen. "Ich wollte mich schon lange bei dir dafür bedanken, dass du mich damals verteidigt hast."
Nelke lächelte ein so warmes Lächeln, dass Frodo verlegen den Blick senkte und spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg und seine Wangen wärmte. Das Kribbeln, das er schon am vergangenen Nachmittag hatte spüren können, kehrte in seinen Bauch zurück und auch wenn Frodo noch immer nicht wusste, ob er es als angenehm oder unangenehm empfinden sollte, entschloss er, dass er es für ein gutes Zeichen hielt.
"Das habe ich gern gemacht", erwiderte Nelke noch immer lächelnd. "Es war nicht recht von meinem Bruder, dich so zu behandeln und auch wenn du manchmal ein ganz schöner Dummkopf bist, bist du mein Freund und sollst nicht in Ärger geraten, für den du nichts kannst." Das Lächeln in ihrem Gesicht wurde noch breiter und ihre Augen leuchteten, als sie plötzlich unter den Rand der Decke griff und einen Stapel Spielkarten hervor holte. "Wir können nicht durch den geheimen Gang kriechen, nur um dann nur dumm dazusitzen. Komm, lass uns Karten spielen."
Frodo sah sie voller Staunen an, unsicher, was ihn mehr verwunderte, ihre Aussage, oder die Tatsache, dass sie Spielkarten hier hinten hatte. Ein Lächeln stahl sich über seine Lippen und er nickte eifrig. "Gut, lass uns spielen!"



~*~*~



Ein Feuer knisterte im Kamin und Frodos Augen blickten verträumt in die züngelnden Flammen. Er saß auf dem Bett in Hannas Zimmer, hatte einen Wollstängel um seine Hände gewickelt und hing seinen Gedanken nach. Hanna hatte ihn nach dem Abendessen darum gebeten, ihr beim Aufwickeln der Wolle behilflich zu sein, während Marmadas mit den Kleinen im Wohnzimmer saß und Frodo hatte gerne zugesagt.
Erst vor kurzem hatten Hanna und Marmadas ihr Zimmer ein wenig umgestaltet, hatten neben dem Kamin eine Ecke eingerichtet, in der die Betten aller drei Kinder aufgestellt waren. Diesen Bereich hatten sie mit einem Vorhang vom eigentlichen Zimmer abgetrennt, sodass Merimas, Minze und Melilot abends nicht so leicht gestört wurden.
Frodo fand es gemütlich auf Hannas Bett zu sitzen, während sie auf einem Sessel vor ihm saß und Wolle auffädelte. Das rotgoldene Licht des Kamins erhellte das Zimmer und das beruhigende Knistern der Flammen klang in seinen Ohren. Es war beinahe so, als wären seine Eltern noch hier, doch der Geruch war ein anderer und das Zimmer hatte sich zu sehr verändert, um die Erinnerung an jene Zeiten wachzurütteln, wenn Frodo es nicht wollte.
Hanna war ungewöhnlich schweigsam, doch wirkte sie auf Frodo fröhlich und so ließ dieser seine Gedanken wandern, erlaubte ihnen, ihn zu Nelke zu führen. Er hatte den ganzen Nachmittag mit ihr verbracht, ehe sie albernd und kichernd den Gang zurück gekrochen waren. Dieses Mal hatte Nelke sich sogar von seiner Vorstellung eines Drachen anstecken lassen, denn sie mochte Geschichten, auch wenn sie kaum welche davon selbst las, und obwohl sie wenig von Drachen hielt, hing sie doch gerne ihren eigenen Vorstellungen nach. Frodo hatte feststellen müssen, dass er sie mochte. Er mochte sie vielleicht sogar mehr, als ihm lieb war. Und Nelke mochte ihn auch. Sie hatte selbst gesagt, dass er ihr Freund war und alleine bei dieser Aussage hatte sein Herz einen solchen Freudensprung vollführt, dass er ihr am liebsten um den Hals gefallen wäre, doch war er zu erstaunt gewesen, um dies auch tatsächlich zu tun. Vielleicht hatte er doch mehr Freunde im Brandyschloss, als er gedacht hatte.

Der Wollstängel war aufgebraucht und zu einem sauberen Knäuel gewickelt worden. Frodo lächelte Hanna kurz an, sah ihr einen Augenblick zu, wie sie alle neuen Wollknäuel verräumte und blickte dann wieder verträumt ins Feuer.
Hanna sah Frodo mit gerunzelter Stirn an, ließ ihren Blick dann zum Feuer wandern und setzte sich neben ihn auf das Bett. Sie hatte ihn schon den ganzen Abend beobachtet, auch wenn sie kaum mit ihm gesprochen hatte. Frodo hatte nicht den Eindruck gemacht, sprechen zu wollen und so hatte sie ihn nicht gedrängt, sondern nur ein paar belanglose Fragen gestellt. Kaum waren diese beantwortet worden, hatten sie schweigend gearbeitet. Frodo hatte dabei ständig ins Feuer gesehen, den Blick leer, als wäre er mit seinen Gedanken weit entfernt und selbst jetzt hatten ihn diese Gedanken nicht losgelassen. Was immer ihn beschäftigte, musste ihm sehr wichtig sein, da er noch mehr vor sich hinträumte, als es selbst für ihn üblich war. Dennoch schien es Hanna, als wären seine Augen klarer, als an vielen anderen Abenden, an denen sie Frodo in den letzten Monaten beobachtet hatte. Eine Traurigkeit hatte ihn umgeben, die so tief saß, dass ihre Worte nicht ausreichten, um Frodo aufzuheitern und, welcher Kummer auch immer ihn beschäftigte, zu vertreiben. Heute schien es ihm jedoch besser zu gehen, obschon sein Ausdruck bekümmert blieb und er ebenso verschlossen war, wie in den vergangenen Wochen.

Frodo war so sehr mit seinen eigenen Grübeleien beschäftigt, dass er nicht einmal bemerkte, wie Hanna sich neben ihn setzte. Seine Gedanken waren von Nelke zu Bilbo gewandert. Wie hatte der alte Hobbit, den er einst so sehr geliebt hatte, ihn so tief verletzen können, dass die bloße Nennung eines Namens ausreichte, um ihn verzweifeln zu lassen? Frodo wusste, er würde nie aufhören können, darüber nachzudenken, nicht so lange ihn Verzweiflung so rasch und unvorhergesehen verschlingen konnte. Dennoch musste er aufhören, an Bilbo zu denken, denn dadurch verletzte er sich selbst und gab jener tiefen Wunde nicht einmal die Möglichkeit, zu heilen. Doch wie sollte ihm das gelingen, wenn ihn die Erinnerung an Bilbos Liebe so sehr quälte? Die Stimme der Sehnsucht schrie so laut in seinem Inneren, dass er sie nicht überhören konnte. Sehnsucht nach Wärme, nach einem Zuhause, erfüllte oftmals jede Faser seines Seins und ließen Verzweiflung über den Mangel, den Verlust an beidem die Überhand gewinnen.

Frodo schloss die Augen und gab sich jener Wärme hin, die sein Herz erfüllte, wie die schwache Erinnerung an seine Mutter. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, seine Verzweiflung gespürt, war die Wärme plötzlich bei ihm gewesen und stillte einen geringen Teil seines Hungers. Seine linke Hand klammerte sich an jener Wärme, jener Liebe fest, um zu verhindern, dass sie ihm je wieder entfleuche. Die Finger schlossen sich um einen warmen, weichen Wollstoff--

-- wie jener aus dem Hannas braunes Winterkleid gemacht war. Erschrocken riss Frodo die Augen auf und wollte sich erheben, doch Hände, eine davon auf seiner Stirn, die andere auf seiner Schulter und seiner linken Hand, geboten ihm mit sanftem Druck, sich nicht zu bewegen.
"Bleib, Frodo, ich bitte dich", hörte er Hanna flüstern und verkrampfte sich unweigerlich.
Erst jetzt wurde ihm klar, dass er den Kopf in ihrem Schoß liegen hatte. Wie hatte es dazu kommen können? Plötzlich verstand er, dass Hanna nicht so fröhlich gewesen war, wie er vielleicht geglaubt hatte. Ob sie sich wegen seines gedankenverlorenen Schweigens nun sorgte? Er unterdrückte das Gefühl der Wärme, das ihn erfüllte, wollte sich aufsetzen, wollte sehen, ob mit Hanna alles in Ordnung war und sich dann in sein Zimmer zurückziehen, doch noch immer hielten ihre Hände ihn sanft zurück. Sie hatte ihren linken Arm um seine Schultern gelegt, ließ ihre Hand nun auf der seinen ruhen, während ihr Daumen nicht aufhörte, über seinen Handrücken zu streichen. Ihre andere Hand ruhte auf seiner Stirn, strich zärtlich über seine Schläfen, wobei sie einige Locken zurückstrich, und kämmte dann sanft durch sein dunkles Haar.
Ein Zittern durchlief seinen Körper und Frodo wusste, dass er gegen seine Sehnsucht nach Liebe machtlos war. Dagegen anzukämpfen, würde sie nur verstärken und so erlaubte er dem Gefühl geliebt zu werden, ihn zu übermannen, entspannte sich schließlich und schloss mit einem leisen Seufzen die Augen. Ohne etwas daran ändern zu können, gab er sich seiner Sehnsucht hin, sog die dargebotene Wärme förmlich in sich auf. Es war nicht die Wärme, die Bilbo ihm geben konnte, oder jene, die seine Mutter ihm geschenkt hatte, doch sie tat wohl und füllte ihn aus, wie das Licht der Sonne. Frodo war Hanna plötzlich unendlich dankbar, dass sie ihn in ihren Armen hielt, hätte ihr das auch gerne gesagt, doch im Augenblick war er nicht dazu in der Lage und wünschte sich nichts mehr, als dass sie ihn nie wieder würde gehen lassen. Nach so vielen Monaten wurde ein Teil seines Schmerzes endlich gelindert und Frodo vermochte es nicht, die Träne der Erleichterung, die ihm dabei über die Wange lief, rechtzeitig wegzublinzeln.

Auch Hanna waren Tränen in die Augen getreten, noch ehe sie die Träne auf Frodos Wangen entdeckt hatte. Für einen Augenblick hatte sie geglaubt, seinen Schmerz fühlen zu können. Für einen kurzen Moment hatte sie ihn vielleicht sogar verstanden, wie sie ihren eigenen Sohn verstanden hätte, doch dieser Moment war verflogen und sie fühlte sich wieder genauso hilflos, wie zuvor. Alles, was sie wusste, war, dass er ihre Nähe brauchte und diese würde sie ihm geben, wann immer er es zuließ.





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