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Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Kapitel 57: Zuhause





Die Zeit verging schnell. Frodo, Merry und Pippin genossen die letzten warmen Tage, waren jedoch häufiger im Bruch anzutreffen als am Flussufer oder unter der großen Eiche, wo sich die meisten anderen Kinder zu dieser Zeit vergnügten. Das Wetter war merklich kühler geworden, nicht selten wehte ein frischer Luftzug über die Felder Bocklands oder ließ die Blätter in den Bäumen rauschen, und Saradoc fürchtete, es würde einen langen, kalten Winter geben. Die Ernte war in vollem Gange und jeder hatte eine Menge Arbeit, die es zu verrichten galt. Junge Hobbits, die nichts besseres zu tun hatten, als sich die Zeit damit zu vertreiben, das mühevoll zusammengetragene Heu unter lautem Schlachtgebrüll und dem Klang aufeinander schlagender Stöcke im Stall zu verteilen, mit der Entschuldigung, die Ponys benötigten ein wenig Unterhaltung, die sie nur dank ihrer lange einstudierten Vorführung der Schlacht auf den Grünfeldern erhielten, wurden unter anderem mit Aufgaben, wie dem Ausmisten von Ställen und dem Auflesen von Äpfeln und Birnen unter den Bäumen, beschäftigt.
An diesem Tag jedoch waren Merry, Frodo und Pippin den Arbeiten im Brandyschloss entkommen. Alle drei hatten sich nach dem Frühstück mit ausreichend Proviant ausgerüstet, Brot und Käse in ihren Rucksäcken verstaut, sich von Esmeralda einen Wasserschlauch füllen lassen und die vielen Ermahnungen der Herrin nickend zur Kenntnis genommen, ehe sie lachend und singend zum Bruch gewandert waren.

"Und wie werden wir nun vorgehen?" wollte Merry wissen und blickte dabei neugierig auf Frodo.
Die jungen Hobbits standen unter dem Apfelbaum im Bruch, jeder von ihnen mit einem Stock bewaffnet, der ihnen als Schwert dienen sollte und berieten ihr Vorhaben. Frodo warf seinen Rucksack zu Boden, griff nach einem im Gras liegenden Apfel und lehnte sich an den Stamm. Er hatte die Führung ihres Abenteuers übernommen, hatte schließlich die Idee dazu in seinem Kopf zu reifen begonnen. Erst am vergangenen Abend, als Merry bei ihm und Pippin im Zimmer gewesen war, hatte er eine Geschichte über einen Drachen erzählt. Nicht etwa jene, die Bilbo gerne zum Besten gab, sondern eine eigene. Sie handelte von einem einsamen Drachenjäger, dessen Auftrag es war, den letzten und mächtigsten aller Drachen in Mittelerde niederzustrecken.
Heute jedoch wollten er, Merry und Pippin die Drachenjäger sein und den gemeinen Lindwurm, der zweifelsohne in den Feldern des Bruchs herumschlich, zu Fall bringen. Dazu mussten sie den Drachen allerdings zuerst finden und genau das teilte Frodo seinen Vettern mit, als er einen Bissen von seinem Apfel nahm.
"Wir werden zusammenbleiben", erklärte er, "und uns bereit halten, sollte er plötzlich auftauchen. Aber wir müssen vorsichtig sein. Keiner soll wissen, dass wir auf der Suche nach dem Drachen sind, denn Drachen haben Späher und wenn man uns entdeckt, könnte er uns zuvorkommen. Wir müssen heimlich handeln. Am besten wäre es, wenn uns niemand auch nur bemerken würde."
Merry und Pippin nickten eifrig, wobei Pippin seinen Stock etwas fester umklammerte, ängstlich, aber doch entschlossen, dem Drachen entgegenzutreten, sollten sie ihn entdecken. Er würde so vorsichtig sein, wie er konnte. Niemand sollte ihn bemerken. Er kannte genügend Möglichkeiten, nicht aufzufallen und jede Einzelne davon würde er anwenden, sollte es die Situation verlangen.
"Es wird keine leichte Suche werden", fuhr Frodo fort und blickte seine Vettern dabei ernst an.
Merry nickte. "Das wissen wir, doch wir werden alle Anstrengungen durchstehen…."
"… und keine Mühen scheuen, den Drachen zu finden", schloss Pippin aufgeregt. Der junge Hobbit konnte kaum noch stillstehen, verlagerte das Gewicht ständig von einem Bein auf das andere und blickte immer wieder gespannt um sich.
Merry war zwar weniger unruhig, doch auch in seinem Gesicht zeigte sich eine gewisse Anspannung. Immerhin ging es hier um einen Drachen. Er war ängstlich, war schon immer ängstlich gewesen, wenn es um Drachen ging, doch wollte er das unter keinen Umständen zeigen. Nicht vor Frodo, der ohnehin um seine Angst wusste und noch weniger vor Pippin, der ihn bestimmt tagelang aufziehen würde, sollte er nur das geringste Anzeichen von Unbehagen bemerken. Auch Merry umklammerte seinen Schwertstock fester.
Frodo nickte zufrieden, stand auf und warf den übrig gebliebenen Apfelkern schwungvoll zur Straße hinüber, in der Hoffnung, er würde in der Böschung landen, die das westliche Flussufer säumte, konnte jedoch nicht erkennen, ob ihm dies auch gelungen war. Ein kühler Luftzug spielte mit seinem Haar und ließ das Blätterdach des Apfelbaumes leise säuseln, als er den Rucksack schulterte und einen weiteren Apfel vom Boden aufnahm, den er sich in die Hosentasche steckte. Pippin wollte ebenfalls ein zweites Frühstück einstecken, doch der Apfel, nach dem er griff, faulte bereits und so ließ er es bleiben.

Es war ein herrlicher Tag für eine Drachenjagd. Der Himmel strahlte in einem klaren Blau, das nur von wenigen Schäfchenwolken durchzogen wurde, und die Sonne war gerade stark genug, um die Männer und Frauen auf den Feldern nicht zum Schwitzen zu bringen. Ab und an säuselte der Wind sein leises Lied, spielte mit den zerzausten Locken der Hobbits und ließ das Gras unter ihren Füßen tanzen, während er Blätter in Bäumen und Büschen zum Rauschen brachte.
Frodo grinste in sich hinein, als er in die Gesichter seiner Vettern blickte. Er hatte es geschafft, sie in ein Abenteuer zu verwickeln und das freute ihn. Es machte ihm Spaß, mit Merry und Pippin auf Drachenjagd zu gehen und auch wenn er anfangs geglaubt hatte, von der Idee eines Drachen im Bruch weit weniger gefesselt zu sein als seine jungen Vettern, musste er bald feststellen, dass er, dank der entschlossenen Gesichter von Merry und Pippin, deren aufgeregten Worten und seiner eigenen, spannenden Geschichte bald zur Überzeugung gekommen war, wirklich einen Drachen niederstrecken zu müssen.
Angespannt schlichen die jungen Hobbits über die Felder, hielten dabei ihre Stöcke fest umklammert und blickten sich immer wieder versichernd nach allen Seiten um. Wann immer sie jemanden entdeckten, gingen sie hinter aufgestapelten Holzscheiten in Deckung, warfen sich flach ins hohe Gras oder versteckten sich in Maisfeldern. Keiner schien ihre Anwesenheit zu bemerken, worauf die drei mächtig stolz waren. Trotz ihrer erheblichen Mühen gelang es ihnen dennoch nicht, den Drachen zu entdecken, was ihnen im Laufe des Nachmittages jedoch vollkommen gleichgültig wurde. Nachdem sie auf einer abgemähten Wiese ihr Mittagslager aufgeschlagen und eine ordentliche Mahlzeit zu sich genommen hatten, war der Gedanke an einen Drachen schon beinahe vergessen. Viel wichtiger war es, auch den Rest des Tages ungesehen durch die Felder zu streifen und den Farmern den einen oder anderen Streich zu spielen. So geschah es, dass Frodo sich an einen Bauer heranschlich, der eine kurze Pause eingelegt hatte und einen Apfel verzehrte. Seine Aufmerksamkeit galt jedoch nicht dem Hobbit, sondern der Sense, mit der dieser zuvor gearbeitet hatte. Heimlich nahm Frodo sie vom Boden auf, um sie einige Schritte weiter im hohen Gras zu verstecken. Das Herz klopfte ihm dabei bis zum Hals und seine Finger zitterten so stark, dass er fürchtete, das Blatt der Sense würde dadurch zum Schwingen gebracht werden. Merry und Pippin hielten sich im nahe gelegenen Maisfeld versteckt und beobachteten das Geschehen. Kaum hatte Frodo die Sense wieder hingelegt, machte er auf dem Absatz kehrt und eilte so leise wie möglich zurück zu ihnen, blickte sich dabei aber immer wieder angespannt um. Ein dünner Schweißfilm lag auf seiner Stirn, als er sich schließlich wieder im Schutz des Maisfeldes befand und er keuchte vor Aufregung, doch seine Augen glänzten. Er hatte es geschafft, die Sense unbemerkt zu verstecken. Merry und Pippin klopften ihm anerkennend auf die Schulter, ehe sie durch die breiten Blätter der Maisstängel auf die Wiese hinausblickten und darauf warteten, dass sich der Bauer wieder an die Arbeit machte. Nach einiger Zeit wandte sich dieser auch endlich um und blickte zum Himmel, um den Stand der Sonne zu prüfen. Die jungen Hobbits bissen sich angespannt auf die Lippen, die Augen glänzend vor Aufregung. Als der Bauer dann verdutzt auf den Fleck sah, an dem zuvor seine Sense gelegen hatte und sich verwirrt an der Stirn kratzte, konnten die Kinder nicht länger an sich halten und brachen in schallendes Gelächter aus, ehe sie blitzschnell das Weite suchten und kichernd und jubelnd im Maisfeld verschwanden, während der Bauer ihnen wütend hinterher rief.
Ein andermal versteckten sich Merry und Pippin hinter einer Vogelscheuche. Die arme Bauersfrau, die das Pech hatte, als Erste an der Strohpuppe vorbeizugehen, ließ vor Schrecken ihren Korb mit eingesammelten Äpfeln fallen, als die Vogelscheuche plötzlich unheimliche Geräusche von sich gab und mit den Armen wedelte. Dann jedoch vernahm sie ein Kichern, und rannte schimpfend hinter Merry und Pippin her, die lachend und Fratzen schneidend davon stürmten.

Erst am Abend, als die Hobbits sich wieder auf den Heimweg begaben und die Sonne tief im Westen stand, kehrten ihre Gedanken zu dem Drachen zurück, und alle drei erfanden die wildesten Geschichten um drei junge Hobbits, die als Drachenjäger in die Welt hinaus zogen. Ein Lachen stand auf ihren Gesichtern und ihre Augen leuchteten, während sie erzählten und die Sonne ihren Wangen einen rötlichen Schimmer verlieh. Sie bogen gerade in den Fährweg ein, als Frodo plötzlich stehen blieb. Merry und Pippin schien das nicht aufzufallen, denn sie gingen weiter, lachten und unterhielten sich, als wäre Frodo noch bei ihnen. Doch plötzlich hielten sie inne und blickten zurück.
"Ist alles in Ordnung?", wollte Pippin wissen, während Merry erklärte, dass sie sich beeilen mussten, wenn sie rechtzeitig zu Hause sein wollten.

Doch Frodo achtete nicht auf sie. Er blieb wie angewurzelt stehen und blickte nach Norden. Das Lächeln auf seinem Gesicht war einem verwunderten Ausdruck gewichen. Sein Herz schlug aufgeregt in seiner Brust, unmerklich schneller, als noch Momente zuvor. Seine Gedanken überschlugen sich. Es konnte nicht sein, oder etwa doch? Nein, er hatte es nicht erwähnt, also musste er sich irren. Frodo blickte weiterhin wie versteinert nach Norden, auf die Gestalt, die von Stock kommend auf sie zu wanderte. Sie hielt einen Wanderstab in einer Hand, hatte einen braunen Umhang um die Schultern geschlungen und schien frohen Gemütes zu sein. Es war schon spät und Frodo konnte das Gesicht des Reisenden in der zunehmenden Dunkelheit nicht erkennen, doch sein Herz wusste bereits, wer auf ihn zukam, auch wenn sein Verstand weiterhin das Gegenteil behauptete.

Noch hatte ihn der Wanderer nicht bemerkt, doch plötzlich blieb er stehen. Ein Windstoß ließ die Blätter in den Bäumen, die den Weg zu Frodos Linken säumten, rascheln und brachte ihn zum erschaudern. Frodo wollte sich bewegen, wollte etwas sagen, doch schien er jegliche Kontrolle über seinen Körper verloren zu haben. Sein Mund war trocken und das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Konnte es denn wirklich sein? Konnte es…
"Bist du das, Frodo?"
Mit einem Mal fiel die Lähmung von ihm ab und Frodo stürmte nach vorne. Wie sehr hatte er diese Stimme vermisst! Wie sehr hatte er gehofft, Bilbo wieder zu sehen und nun stand er plötzlich vor ihm und dass, obwohl er geglaubt hatte, Bilbo so bald nicht wieder zu sehen. Tränen der Freude sammelten sich in seinen Augen, doch Frodo war viel zu beschäftigt damit, wie blind über die Straße zu stolpern, als dass er sie hätte wegblinzeln können.

Bilbo hatte seinen Wanderstab fallen gelassen und war Frodo entgegen geeilt, überrascht und zugleich sehr erfreut, Frodo eher zu sehen, als er gehofft hatte. Mit offenen Armen empfing er den Jungen, als dieser ihm entgegenstolperte, drückte ihn an seine Brust und hielt ihn einfach nur fest, als Frodo sich voller Freude an ihn klammerte.
Noch hatten sie keine Worte miteinander gewechselt und doch umgab ihn bereits eine Vertrautheit, die Frodo nur von Bilbo kannte. Tränen der Freude rannen über seine Wangen. Seine Knie waren weich geworden und Frodo war sich sicher, dass er gefallen wäre, hätte Bilbo ihn nicht festgehalten, doch das machte ihm nichts aus. Er vergrub den Kopf in Bilbos Mantel, sog dessen Duft tief in sich ein und schloss die Augen. Der Mantel roch nach Pfeifenkraut und Wein, doch Frodo konnte auch andere Gerüche erkennen, die nicht vom Mantel herrührten, doch zweifelsohne von Bilbo stammten. Keiner roch so stark nach Tinte, altem Pergament und Büchern, wie sein Onkel. Frodo fühlte die Wärme der Umarmung, Bilbos Wärme, und seine Seele sog sie sogleich in sich auf, stillte die Sehnsucht, die zu einem Teil von ihm geworden war und gewährte ihm einen Augenblick des Friedens.
"Du bist also doch gekommen", wisperte er mit tränenerstickter Stimme, die zugleich unendlich erleichtert klang.
Bilbo strich ihm zärtlich durch die dunklen Locken, hatte bei dem Klang von Frodos Stimme selbst mit den Tränen zu kämpfen. "Ja, mein Junge, ich bin hier. Ich bin hier."

Merry und Pippin waren wieder auf die Landstraße geeilt, als Frodo plötzlich davon gestürmt war. Pippin wollte Bilbo sogleich freudig begrüßen, als er ihn erkannte, doch Merry hielt ihn kopfschüttelnd zurück. Er lächelte, wusste er doch, wie sehr Frodo Bilbo liebte und gönnte ihm diesen Moment des ersten Zusammentreffens alleine. Erst als die beiden zu ihnen kamen, begrüßten auch er und Pippin den alten Hobbit und gemeinsam machten sie sich schließlich auf den Weg zum Brandyschloss, wobei sie Bilbo sogleich in ihr Drachenabenteuer und andere Geschehnisse einweihten.





~*~*~




Frodo hatte die Hände hinter den Kopf gelegt und blickte mit blinden Augen zur Zimmerdecke. Ein blasser Halbmond warf sein schwaches Licht in das kleine Zimmer und ließ Frodos junges Gesicht fahl aussehen. Die Nacht war schon weit fortgeschritten, doch Frodo konnte keinen Schlaf finden.
Bilbo hatte ihn nach dem Abendessen zu sich gerufen, und Frodo hatte den ganzen Abend bei ihm verbracht und sich mit ihm unterhalten. Alleine wäre er nicht zu dem alten Hobbit gegangen, ganz gleich, wie sehr sich sein Herz dies wünschte, schließlich hatte Bilbo eine lange, beschwerliche Reise hinter sich und brauchte seine Ruhe. Frodo hätte sich frühestens nach dem Frühstück am nächsten Morgen in das Zimmer seines Onkels gewagt und selbst dies schien unwahrscheinlich, denn er wollte dem alten Hobbit nicht zur Last fallen. Obschon seine Begrüßung bei der Fähre stürmisch gewesen und gleichermaßen erfreut erwidert worden war, hatten sich bereits auf dem Heimweg erste Zweifel eingeschlichen, ob Bilbo wirklich seinetwegen gekommen war. In seinem Brief hatte der alte Hobbit schließlich nichts erwähnt und Frodo hatte sich bereits darauf eingestellt, seinen Geburtstag in zwei Tagen alleine verbringen zu müssen. Vielleicht hatte Bilbo andere Dinge zu erledigen, die weitaus wichtiger waren, als der Geburtstag seines Neffen. Womöglich sollte er seine überschwänglichen Emotionen zügeln, und seinen Onkel nur besuchen, wenn dieser ihn zu sich rief, um ihm nicht zur Plage zu werden. Alleine der Gedanke ließ Frodos Herz bluten. Welchen Grund konnte Bilbo schon haben, so kurz vor seinem eigenen Geburtstag eine solche Reise anzutreten, wenn nicht jenen, ihm eine Freude zu machen?
Gequält schloss Frodo die Augen. So gern er dies auch glauben wollte, der Gedanke, dass Bilbo alleine wegen ihm hier war, schien ihm ebenso unwahrscheinlich, wie jener, dass sein Geburtstag überhaupt nichts mit dem Besuch seines Onkels zu tun hatte.

Mit einem leisen Stöhnen drehte er sich auf die rechte Seite. Bilbo war hier und so sehr ihn das freute, so sehr es ihn erleichterte, so sehr ängstigte ihn das auch. In Bilbos Nähe fühlte er sich schwach, klein und hilflos. Hatte er es zuvor geschafft, monatelang nicht zu weinen, abgesehen von einigen wenigen Tränen, so war er heute in Tränen ausgebrochen, noch ehe er Bilbo begrüßt hatte. Selbst wenn er es gewollt hätte, hätte er gegen jene Tränen nicht ankämpfen können, denn es waren Tränen der Erleichterung gewesen. Erleichterung, dass sein Onkel zu ihm gekommen war und er auf Verständnis hoffen konnte, auf Geborgenheit.
Frodo wusste von seiner Sehnsucht nach Wärme. Jener Wärme, die ihm nur Bilbos Umarmungen gewähren konnte. Er wusste von dieser Sehnsucht, seit jenem Tag, an dem seine Großmutter zu Grabe getragen worden war und der Wunsch nach einer Umarmung stärker gewesen war, als jemals zuvor. Doch schon früher hatte er davon gewusst, wenn auch nicht ganz so klar, wie er es nun tat. Was Frodo jedoch am meisten verwunderte war die Tatsache, dass nur Bilbos Umarmungen jene Wärme auszustrahlen schienen, nach der er sich so sehr sehnte, jene Wärme, die ihn so sehr an seine Mutter erinnerte, und es erschreckte ihn beinahe, wie widerstandslos er sich von Bilbo in die Arme nehmen ließ. Nur in seinen Armen fühlte Frodo sich sicher, geborgen, und fühlte die Wärme, nach der sich sein junges Herz verzehrte. Doch das war nicht alles, was Bilbos Umarmungen in ihm auslösten. In Bilbos Armen fühlte er selbst im Brandyschloss etwas, das er hier seit vielen Jahren nicht mehr zu fühlen imstande war. In Bilbos Armen umfing ihn das unabstreitbare Gefühl…

"Zuhause." Pippins Stimme klang schwach und tränenerstickt.
Frodo schreckte aus seinen Gedanken, blinzelte und lauschte. Ein leises Schluchzen drang an sein Ohr, ein Wimmern, das zweifelsohne schon länger anhielt, nur hatte Frodo es zuvor nicht wahrgenommen, da er zu tief in Gedanken gewesen war. Erschrocken wandte er sich um, stützte sich auf den Ellbogen und blickte auf die Matratze neben seinem Bett.
"Pippin?", flüsterte er beinahe zögernd. "Warum weinst du?"
Frodo hörte, wie sein Vetter scharf die Luft einzog. Das Schluchzen erstarb und die Bettdecke, unter der sich Pippin vollends verkrochen hatte, bewegte sich unmerklich näher an Frodos Bett heran.
"Ich weine nicht", antwortete eine Stimme, die ihre eigene Aussage Lügen strafte. Pippin lugte unter der Bettdecke hervor und zog die Nase hoch.
Frodo wollte gerade fragen, was ihn so sehr betrübte, als Pippin mit einer raschen Bewegung auf sein Bett kletterte und das Gesicht in seinem Nachthemd vergrub.
"Ich weine nicht", wiederholte der junge Tuk noch einmal, doch kullerten Tränen dabei über seine Wangen und tropften auf Frodos Nachthemd. Hilfe suchend und krampfhaft umfassten Pippins Hände den Stoff des weichen Gewandes und nicht enden wollendes Zittern ließ seinen Körper erbeben.
Frodo erstarrte vor Schrecken. Was war geschehen? Pippin war eine Frohnatur, wie es im ganzen Auenland keine Zweite gab, doch was hatte seinen Vetter so sehr aus der Fassung gebracht, dass er nun weinend in seinem Bett lag und unaufhörlich in sein Nachthemd schluchzte.
Beinahe zögernd legte Frodo einen Arm um Pippins Schulter, strich sanft über die dichten, braunen Locken und drückte seinen Vetter an sich. Er vollbrachte, was keiner für ihn getan hatte, wenn stille Verzagtheit stärker gewesen war als er, und sein Herz schrie auf bei Pippins Weinen, wünschte sich nichts mehr, als seine eigenen Leiden so zu lindern. Doch Frodo brachte die verzweifelte Stimme zum Schweigen, auch wenn es ihn alle Willenskraft kostete, die er aufbringen konnte. Zuerst musste er wissen, weshalb Pippin so bekümmert war, ganz gleich, wie ängstlich ihn diese Situation stimmte, oder wie sehr ihm selbst nach Weinen zumute war.
Das Schluchzen wurde zu einem leisen Wimmern und Frodo wagte es schließlich, die Stille, die aufgekommen war, zu brechen. Seine Stimme zitterte, als er Pippin sanft nach dem Grund für seine Tränen fragte.
Pippins feuchte grüne Augen blickten in Frodos fragende blaue, als er zögernd zu erklären begann. "Es gefällt mir hier, aber ich will wieder nach Hause", sagte er leise, schüttelte dann aber den Kopf. "Nein, ich wünschte, ich wäre bereits Zuhause."
Frodo nickte. Er konnte seinen Vetter verstehen. Pippin war selten so lange von zu Hause fort und wenn, dann wurde er entweder von seiner Mutter oder seinem Vater begleitet. Dieses Mal jedoch war er mit Perle hier, die er ohnehin nur bei den Mahlzeiten sah. Zwar hatte Frodo selbst keine Geschwister, doch war er sich sicher, dass eine ältere Schwester, vor allem jemand wie Perle, nicht dazu in der Lage war, solchen Kummer zu bekämpfen. Jedenfalls konnte sie das bestimmt nicht so gut, wie es Pippins Eltern hätten tun können, denn soweit sich Frodo erinnern konnte, hatte Pippin bei keinem anderen seiner Besuche im Brandyschloss über Heimweh geklagt. Frodo empfand Mitleid für seinen Vetter und seine Umarmung wurde unmerklich fester. Fieberhaft dachte er darüber nach, wie er ihm helfen, wie er ihn aufmuntern konnte, als Pippin ihn geradewegs ansah und ihn fragte: "Hattest du noch nie Heimweh, Frodo? Ich meine, du warst viele Monate bei mir in den Großen Smials, doch du hattest kein Heimweh, oder doch? Das Brandyschloss ist dein Zuhause, vermisst du es denn nicht, wenn du weg bist?"
Frodo verkrampfte sich unweigerlich bei dieser Frage. Er hatte nie darüber nachgedacht. Hatte er jemals an Heimweh gelitten? Krampfhaft versuchte er, sich an ein Ereignis zu erinnern, an dem dies der Fall gewesen war, doch ganz gleich, woran er dachte, ob an einen Besuch bei Bilbo mit seinen Eltern, seinen Besuch in Tukland vor beinahe vier Jahren oder an seinen Aufenthalt bei Bilbo nach seinem zwölften Geburtstag, er konnte sich an kein einziges Mal erinnern, an dem ihn Heimweh geplagt hatte. Seine Stirn legte sich verwirrt in Falten und er hoffte, Pippin könne dies in der Dunkelheit nicht erkennen. Damals war ihm das als nichts Besonderes erschienen, doch jetzt, da er daran zurück dachte, kam es ihm seltsam vor.

"Nicht älter, aber wesentlich richtiger im Kopf."
Marrocs Worte klangen in seinen Ohren und Frodo wusste mit einem Mal um die Wahrheit, die darin verborgen lag. Er war seltsam, schließlich entsprach es der Ausnahme, kein Heimweh zu haben. Erschrocken biss er sich auf die Lippen. Sollte Marroc am Ende doch Recht behalten? Er spürte, wie er zu zittern begann, doch konnte er nicht sagen, ob vor Wut auf Marroc, oder vor Empörung über seine eigene, erschreckende Feststellung.
Plötzlich jedoch drängte sich ein anderer Gedanke in seinen Kopf. Weshalb sollte er Heimweh haben? Als er mit seinen Eltern bei Bilbo gewesen war, hatte es keinen Grund gegeben, sich zu wünschen, woanders zu sein, schließlich waren seine Eltern bei ihm. Der Gedanke daran schmerzte Frodo und er schielte zu seinem Nachtkästchen, wo das Bild seiner Eltern im Mondlicht blass schimmerte.
Später, als er alleine gewesen war, hatte es ebenfalls keinen Grund für ihn gegeben, zum Brandyschloss zurück zu wollen. Zwar lebte er hier, doch seit seine Eltern nicht mehr bei ihm waren, war das Brandyschloss auch nicht länger sein Zuhause, ebenso wenig, wie es das Zuhause seiner Eltern war.

Tränen, die er zurückhalten hatte wollen, schossen mit einem Mal in Frodos Augen und eine erschreckende und zugleich erleichternde Erkenntnis traf ihn. Gedanken aus längst vergangenen Tagen kehrten in seinen Kopf zurück.
Was immer die anderen auch behaupten mochten, er wusste, dass sein wahres Zuhause nicht mehr im Brandyschloss war, sondern hier, bei Bilbo.
Plötzlich wusste er auch, was der Auslöser für jene Sehnsucht war, die ihn schon so lange hungern und verzweifeln ließ. Er wusste, was er neben Geborgenheit und jener Wärme spürte, die ihm sonst nur seine Mutter zu spenden vermochte. In Bilbos Armen fühlte er sich zu Hause. In seinen Armen entdeckte er jenes Zuhause wieder, das er vor sechs Jahren verloren hatte.

Und hätte er es gewusst, hätte Frodo auch den Grund für andere Gefühle gefunden. Er fühlte sich schwach, klein und hilflos, weil er sich Zuhause erlauben konnte, eben dies zu sein. Zuhause konnte er jenes Kind sein, das vor sechs Jahren beinahe mit seinen Eltern gestorben war und sich seither hinter einer Mauer versteckte, vortäuschend ein Herz zu besitzen, das nicht halb so stark war, wie es vorgab zu sein. Er schenkte Liebe, die er zu empfangen hungerte, gewährte Schutz, wo er Schutz suchte, spendete Trost, wenn er Trost benötigte, während Einsamkeit, Kummer und Verzweiflung an seiner zerbrechlichen Seele nagten.

"Ich weiß nicht mehr, ob ich Heimweh hatte", antwortete Frodo schließlich und schluckte schwer. Sein Mund war trocken, seine Kehle wie zugeschnürt. Die Tränen in seinen Augen drohten überzulaufen. "Vielleicht hatte ich welches", sagte er leise, als ihm unerwartet eine Idee kam, seinen Vetter aufzuheitern, "aber weißt du was? Ich glaube, der Drachenjäger hatte kein Heimweh. Stell dir vor, er hätte welches gehabt", Frodo lächelte und versuchte, seine Stimme so fröhlich klingen zu lassen, wie es ihm möglich war, auch wenn er innerlich weinte, doch davon sollte Pippin nichts bemerken. Der junge Tuk hob den Kopf und blickte Frodo mit fragenden Augen an. "Vermutlich hätte er dann kurz vor seinem Ziel umgedreht und wäre nach Hause gegangen." Ein kurzes Lächeln huschte über Pippins Lippen und das war alles, was Frodo benötigte, um fortzufahren, ganz gleich, wie er sich im Augenblick fühlte.
Und so erzählte er, redete bis spät in die Nacht, bis Pippin seine alte Fröhlichkeit wieder fand und seine Tränen vergaß.





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