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Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Kapitel 29: Denk an nichts



An nichts denken, denk an nichts. Ich denke zuviel nach und damit hat er zweifelsohne Recht. Ich denke nach und mache mir auf diese Weise das Leben schwer. Je mehr Gedanken ich mir mache, umso mehr Sorgen habe ich. Oder wäre es auch so, wenn ich nicht nachdenken würde?
Nein! Ich soll nicht nachdenken!
Nichts. Nichts! Ich denke an nichts.
Schwarz. Ein großes, schwarzes Loch. Nichts.
Warum schwarz? Warum kann es nicht weiß sein? Male ich alles schwarz, oder ist es immer so, wenn man an nichts denkt?
Aber ich denke nicht an nichts! Ich mache mir Gedanken über ein schwarzes Loch! Mein Nichts. Sieht das Nichts bei jedem anders aus? Ist es nur bei mir schwarz?
Hör auf zu denken!
Kann man das überhaupt? Aufhören zu denken? Nichts in seinem Kopf haben, worüber man sich Gedanken machen könnte?
Es geht nicht. Ich will an nichts denken und dann zerbreche ich mir den Kopf über... nichts.
Ob Merry auch soviel nachdenkt? Bestimmt nicht!
Ich denke nicht einmal nach. Die Gedanken kommen einfach. Ich will gar nicht, dass sie da sind, doch sie sind hier. Ich will an nichts denken, an gar nichts. Und trotzdem...
Gedanken sind immer da. Sie lassen mich nicht allein und doch wäre ich froh, auch sie würden gehen. Sie schmerzen. Sie erzeugen Angst. Sie machen alles nur noch schlimmer.
Alleine sein. Alleine hier sitzen und an nichts denken. Nichts. Und doch wandern meine Finger schon wieder zu ihrem Bild, berühren es zärtlich. Ich kann nicht aufhören, an sie zu denken. Nicht solange ich alleine bin.
Habe ich früher auch soviel nachgedacht? Ich weiß es nicht mehr. Selbst wenn, so glaube ich, dass zumindest die Gedanken andere waren. Glücklichere vielleicht.
Bin ich glücklich? Das bin ich und doch bin ich es nicht. Glück. Was ist Glück eigentlich? Heißt glücklich sein für jeden etwas anderes?
Ich verlange nicht viel. Nur einen Gutenachtkuss, ein Lob, eine freundliche Berührung.
Ich vermisse Bilbo. Er gab mir diese Dinge. All die Dinge, die meine Eltern mir auch gegeben haben. Wie schön wäre es, auch einmal ein Lob von Saradoc zu erhalten, von Esmeralda zu Bett gebracht zu werden. Weiß Merry überhaupt, wie gut er es hat?
Nichts. Ich denke an nichts und ende genau da, wo alles anfing. Dieselben Gedanken, die mich erst auf die Idee brachten, an nichts zu denken. Fort. Fort von den Dingen, über die ich schon so lange sprechen sollte, aber es nicht kann. Fort…
Nichts. An nichts denken.
Marroc hatte Recht. Ich bin verrückt.



Frodo lehnte am Stamm der großen Eiche und kaute an einem Grashalm. Am vergangenen Abend war das Gefühl des Alleinseins wieder besonders stark gewesen. Sein Versuch, nicht daran zu denken, an gar nichts zu denken, war kläglich gescheitert.
Heute ging es ihm besser. Am Vormittag hatte er Fredegar Bolger, den alle nur Dick nannten, und seine Schwester Estella getroffen. Die beiden wohnten in Balgfurt und waren diesen Sommer zu Besuch. Frodo mochte Fredegar. Zwar hatte dieser kein Interesse an großen Abenteuern, wie das bei Merry und ihm der Fall war, doch er war ein gemütlicher Junge, der den Sommer am liebsten faul in der Sonne liegend verbrachte. Frodo war das nur recht, denn auch er ließ sich die Sonne gerne ins Gesicht scheinen und unter den Ästen eines Baumes, untermalt mit dem Rascheln der Blätter, dem Plätschern des Brandyweins und den entfernten Rufen spielender Kinder, träumte es sich am besten.
Fredegar hatte ihm dabei geholfen, frisches Wasser in die Tränke der Ponys auf der Koppel zu geben und selbst Estella war ihnen dabei behilflich gewesen, auch wenn sie für das junge Mädchen nur einen kleinen Eimer hatten, sehr zu ihrem Verdruss, war sie doch der Ansicht, mindestens genauso kräftig wie ihr Bruder zu sein. Frodo und Dick hatten ihr Gejammer jedoch bald nicht mehr beachtet und so hatte Estella sie irgendwann alleine gelassen.
Nach dem Mittagessen war Dick mit seiner Familie nach Bockenburg gegangen. Frodo war zu Hause geblieben, auch wenn er Erlaubnis erhalten hätte, sie zu begleiten. Beinahe den ganzen Nachmittag hatte er auf der Schaukel gesessen und vor sich hin geträumt, während ihm der Wind erfrischend ins Gesicht geblasen hatte. Manchmal gefiel es ihm, alleine zu sein, keine Verpflichtungen zu haben und einfach nur den Tag zu genießen.

Die Schatten wurden länger und Frodo erhob sich schließlich, um zum Brandyschloss zurückzukehren. Dabei ging er an den Gärten vorüber und sein Blick fiel auf das Erdbeerbeet. Rote, süße Beeren leuchteten zwischen den Blättern. Frisch gepflückt schmeckten sie am besten. Frodo überlegte nicht lange, hörte auf seinen Bauch und lief schnurstracks auf das Beet zu, griff nach der erstbesten Beere und schob sie sich in den Mund. Sie schmeckte süß, wie er erwartet hatte und er ließ sich den Geschmack genüsslich auf der Zunge zergehen. Frische Erdbeeren waren beinahe so gut wie Pilze.
Er wollte gerade nach einer weiteren Beere greifen, als ihn jemand an der Schulter packte, ihn zurückriss und zu Boden stieß. Erschrocken wandte Frodo sich um, entdeckte Marroc. Er schnappte nach Luft, wich zurück und wollte wieder aufstehen, doch Marroc stieß ihn erneut zu Boden, wo er unsanft auf seinem Hintern landete.
"Na, was haben wir denn da?", fragte der Ältere zynisch. "Vertreiben wir uns den Abend damit, Erdbeeren zu stehlen?"
Frodo blitzte ihn wütend an. Stehlen? So etwas würde er sich nicht unterstellen lassen.
"Ich stehle sie nicht, ich esse sie!"
"Was für ein Unterschied!" erwiderte Marroc mit ironischem Tonfall.
"Soweit ich weiß, ist es erlaubt, Beeren zu essen", ließ Frodo ihn sachlich wissen und wagte einen weiteren Versuch, auf die Beine zu kommen, doch Marroc stellte seinen rechten Fuß auf seine Brust, drückte ihn kraftvoll zu Boden.
"Dann muss ich mir eben etwas anderes einfallen lassen", zischte er zornig und verstärkte den Druck noch.

Die Furcht, die er zuvor zurückhalten konnte, brach mit einem Mal über ihn herein. Frodo wusste, wie ängstlich er war. Er kannte das Gefühl nur zu gut. Es war wie eine Hand, die sich tief in sein Inneres bohrte und alles zusammenzudrücken schien, was sie finden konnte. Sein Atem stockte.
"Hör auf damit!" befahl er mit rauer Stimme.
"Weshalb sollte ich?"
Die Kälte in Marrocs Ton ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Das Herz klopfte ihm wild in der Brust und Frodo zweifelte nicht daran, dass Marroc dies spüren konnte, als der ältere Hobbit seinen Fuß noch fester auf seinen Brustkorb drückte, bis es Frodo schwer fiel zu atmen. Er versuchte, seinen Peiniger von sich zu stoßen, doch Marroc rührte sich nicht.
"Du kennst Saradocs Anweisungen!" brachte er mühevoll hervor, während seine Finger sich im Fußhaar seines Peinigers verfingen, mit dem Ziel, einige der krausen Locken auszureißen.
"Saradocs Anweisungen?!" Marroc lachte spöttisch und beugte sich zu ihm herunter, verlagerte noch mehr seines Gewichtes auf seinen rechten Fuß. "Es ist mir egal, welche Anweisungen er gegeben hat. Sieh dich an! Dir haben seine Anweisungen nichts genutzt. Du bist noch genauso jämmerlich, wie vor einem Jahr!"

Frodo starrte ihn entgeistert und keuchend an, verharrte einen Augenblick regungslos.
Hatte er Recht? Es stimmte, viel hatte sich seit dem letzten Jahr nicht verändert. Er schien noch immer derselbe zu sein, genau wie seine Sorgen. Warum konnte er sie nicht hinter sich lassen, an nichts denken und all seine Ängste vergessen? Warum war das so schwer?
Jämmerlich.
Frodo schüttelte den Gedanken ab. Es wäre jämmerlich, sich wieder von Marroc unterdrücken zu lassen. Er musste ihm entkommen. Er musste sich gegen ihn zur Wehr setzen.

"Ich bin nicht jämmerlich!" rief er aufgebracht und seine Augen funkelten. "Wenn jemand jämmerlich ist, dann bist du das. Du fühlst dich doch nur stark, wenn du jemanden wie mich unterdrücken kannst."
Marrocs Augen verengten sich zu wutentbrannten Schlitzen und seine grobe Hand packte Frodo am Kragen, zog ihn gewaltvoll hoch, sodass Frodo das Gras nur noch mit seinen Zehenspitzen erreichen konnte. Die feinen Grashalme kitzelten seine Sohlen.
"Wer glaubst du eigentlich, wer du bist?", zischte er zornig.

Frodo konnte das Blut in seinen Ohren rauschen hören, während er versuchte, wieder Boden unter die Füße zu bekommen und sich aus Marrocs Griff zu winden, doch so sehr er sich auch fürchtete, seine Augen blickten starr in die seines Gegenübers und bald hörte er auf, sich zu wehren. Er hatte einen Weg gefunden, wie er sich seiner entledigen konnte.

"Du weißt, dass ich Recht habe!" sagte er entschlossen.
Marroc stieß ihn erneut zu Boden, wo er hart aufschlug. Frodo wollte gerade wieder aufstehen, als er aus den Augenwinkeln, eine Hand erkannte, die blitzschnell auf ihn zuflog. Erschrocken presste er die Augen zusammen und legte schützend die Arme vor den Kopf.
"Wenn du mich schlägst, habe ich Beweise und wer weiß, was Saradoc dann mit dir machen wird!" schrie er, noch ehe er wusste, was er überhaupt sagte.
Die Hand stoppte, packte ihn erneut am Kragen und hob ihn hoch. Frodo schwindelte bei der raschen Bewegung, doch war er erleichtert, das Gras unter seinen Füßen zu fühlen. Zögernd ließ er seine Arme sinken und öffnete die Augen, nur um zu erkennen, dass er das Ziel von Marrocs hasserfülltem Blick geworden war. Die dunklen Augen blitzten ihn zornig an, doch Frodo wich dem Angst einflößenden Blick nicht aus. Dieses Mal, würde er das nicht tun.
"Na los", forderte er, "Worauf wartest du noch? Schlag mich!"
Seine Augen blickten starr in die von Marroc. Er wusste nicht, ob sein Plan funktionieren würde und je länger der giftige Blick des Älteren auf ihm ruhte, umso unruhiger wurde er. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln, bis Marroc ihn schlug. War er wahnsinnig geworden, ihn auch noch dazu aufzufordern? Marroc war der Letzte, der eine solche Aufforderung brauchte!

Doch Marroc schlug ihn nicht, stieß ihn stattdessen erneut zu Boden und ging davon.
Frodo sah ihm keuchend hinterher. Erleichtert atmete er auf, als der Ältere außer Sicht war. Seine Hand strich über seinen Kragen. Er betrachtete seine Finger. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr er zitterte. Sein Herz pochte, als wolle es ihm aus der Brust springen. Er konnte das Klopfen, das sogar noch lauter zu sein schien, als das Rauschen seines Blutes, in seinen Ohren hören.

Als sich sein Atem langsam wieder beruhigte, kam er wieder auf die Beine. Seine Knie fühlten sich an, als würden sie jeden Moment nachgeben, doch Frodo war nicht gewillt, ihnen das zu erlauben. Stattdessen stand er befriedigt im Licht der untergehenden Sonne und grinste. Seine Augen blickten zufrieden in die Richtung, in die Marroc verschwunden war. Er hatte ihn besiegt. Er hatte es gewagt, sich gegen ihn zur Wehr zu setzen und er hatte ihn besiegt.
Frodo wandte sich ein letztes Mal dem Erdbeerbeet zu, griff nach einer wohlverdienten Beere und schickte sich an, ins Brandyschloss zurückzukehren.



~*~*~



Am nächsten Morgen war Frodo schon früh auf den Beinen. Saradoc hatte ihm angeboten, mit ihm zum Hohen Hag zu reiten. Jedes Jahr im Frühling und im Herbst machte sich der Herr von Bockland auf, die Hecke zu kontrollieren. Wenn er der Ansicht war, dass sie zu wild wucherte, gab er in Auftrag, sie zu stutzen. Außerdem kam er so an Orte, an denen er sonst das ganze Jahr über nur selten war. Die Hobbits aus den Ortschaften weit südlich des Brandyschlosses freuten sich immer sehr, wenn der Herr von Bockland zu ihnen ritt.
Frodo war überglücklich, ihn begleiten zu dürfen. Eine Ehre, mit der er nicht gerechnet hatte. Doch während sie stumm an der Hecke entlang ritten, fragte er sich, ob Saradoc ihn nur mitgenommen hatte, weil Merry nicht da war.
"Hör auf, darüber nachzudenken!" schalt er sich selbst.

Gegen Mittag legten sie eine Pause ein. Sie saßen auf einer Decke, die sie in einer Wiese unweit der Hecke platziert hatten und aßen Brote, die Esmeralda ihnen eingepackt hatte. Der Himmel war wolkenverhangen, doch sah es nicht so aus, als würde es zu regnen beginnen.
"Danke, dass ich dich begleiten durfte", murmelte Frodo schließlich, ohne von seinem Brot aufzusehen.
Saradoc lächelte. "Das mache ich doch gerne. Schließlich sollst du wissen, wo du wohnst und wer hier lebt", meinte er und klopfte ihm auf die Schulter.
Diese einfache Geste genügte, um Frodo einen Teil seiner Unsicherheit zu nehmen und er sah schließlich, mit einem zaghaften Lächeln im Gesicht, in die freundlichen, grünen Augen des Herrn, ehe sein Blick zum Hohen Hag wanderte, dem Saradoc den Rücken zugewandt hatte. Die dunkelgrüne Farbe der Blätter war angenehm zu betrachten. Frodo glaubte nicht, dass um diese Jahreszeit viel getrimmt werden musste, denn nur hier und da ragten einzelne Äste zwischen den Blättern hervor und suchten ihren Weg zum Sonnenlicht. Sein Blick ruhte jedoch nicht auf der Hecke selbst, sondern lag viel mehr auf dem, was dahinter lag.
"Bist du schon einmal drin gewesen?", fragte Frodo schließlich neugierig.
"Ich war drinnen, aber nur bei Tageslicht. Nachts ist es zu gefährlich", meinte Saradoc, der seinem Blick gefolgt war.
"Opa hat gemeint, dort gingen komische Dinge vor sich."
Saradoc nickte. "Es gibt viele Geschichten um den Alten Wald. Das Meiste ist erfunden, doch ich bin davon überzeugt, dass etwas Seltsames in seinem Innern haust. Etwas Unheimliches."
Saradoc hatte seine Worte leise gesprochen, doch sein Tonfall ließ keine Zweifel an seiner Überzeugung. Während Frodo den Herrn, der geistesabwesend zur Hecke starrte, betrachtete, fragte er sich, woher Saradoc seine Sicherheit nahm. Natürlich kannte er die Geschichten und, je nach Inbrunst des Erzählers, hatten ihm diese auch schon Angst gemacht, doch schließlich war es nur ein Wald. Dennoch wurde Frodo unbehaglich und ein Schauer lief ihm über den Rücken, als ein kühler Wind aufkam und ihm die Haare ins Gesicht blies.
"Wir sollten weiter", meinte Saradoc plötzlich, hatte die Riemen seines Rucksackes in den Händen, noch ehe er sich danach umgedreht hatte. Frodo ließen seine Worte beinahe zusammenschrecken, so überraschend waren sie gekommen, doch erhob er sich rasch und half, die Decke zusammenzulegen.

Bald darauf saßen sie wieder auf ihren Ponys und ritten stetig nach Süden, immer der Hecke entlang. Saradoc ließ seinen Blick prüfend über die dunklen Blätter wandern, während der Tag sich seinem Ende neigte. Frodo war vom langen Ritt müde geworden und, hatte er sich zuvor angeregt mit Saradoc unterhalten, trabte er nun meist schweigend neben ihm her.
"Dort vorne siehst du Hagsend", verkündete Saradoc plötzlich und deutete nach Südwesten. "Wir werden die Nacht im dortigen Wirtshaus verbringen."
In der Dämmerung erblickte Frodo einige Höhlen und kleine Häuser und war froh, dieses Mal darauf zuzureiten und sie nicht nur aus der Ferne zu betrachten. Am heutigen Tag waren sie schon an einigen Ortschaften vorüber geritten. Vom Brandyschloss aus waren sie erst der Bocklandstraße nach Norden gefolgt, bis sie das Nordtor erreicht hatten, wo die Hecke bis zum Flussufer hinunterzieht. Saradoc hatte sich lange mit dem Wächter über das Kommen und Gehen von Handelsreisenden aus Bree unterhalten, ehe sie sich auf ihren eigentlichen Weg gemacht hatten. Von weitem hatte Frodo die größeren Ortschaften Bocklands erblickt, Neuburg und das, an der Bocklandstraße gelegene Steingrube, und einige einzelne Höfe und Weiden auf denen Schafe, Schweine, Kühe, Ponys oder Ziegen grasten, doch begegnet waren sie keinem. Die Hobbits machten einen Bogen um den Alten Wald und keiner wollte zu nahe an der Hecke leben. Umso einladender wirkten nun die Lichter von Hagsend, jener Ortschaft die sowohl am weitesten im Süden lag, als auch der Hecke am nächsten war. Frodo sehnte sich nach einem vernünftigen Abendessen und einem bequemeren Sitzplatz als dem Sattel.

"Herr Saradoc!"
Überrascht wandte Frodo sich um. Ein stämmiger Hobbit in einem nicht wenig verschmutzten Arbeitshemd und bereits ergrautem Haar kam auf sie zu gerannt. Saradoc kannte den Mann offensichtlich, denn er begrüßte den Fremden als Herrn Grabenbuddler und binnen kürzester Zeit waren die beiden in eine rege Unterhaltung vertieft. Frodo schenkte dieser nur wenig Beachtung und kam sich bald vollkommen fehl am Platze vor. Er deutete Saradoc an, dass er ein Stück voraus reiten wolle und auf ein Nicken des Herrn trieb Frodo sein Pony an.
Das Tier trabe gemächlich über die Wiesen. Hagsend lag nun zu seiner Rechten, doch Frodo hatte nicht vor, alleine in die Ortschaft zu reiten. Er wollte auf Saradoc warten und sich derweil ein wenig umsehen. Hobbithöhlen gab es hier kaum, stattdessen schienen die Bewohner mit Häusern aus Holz vorlieb zu nehmen. In vielen Fenstern konnte Frodo den warmen Schein von Kerzen und Feuer ausmachen und auch wenn er nicht fror, merkte er plötzlich, wie sehr er sich nach einem gemütlichen, warmen Zimmer sehnte.
Er trieb sein Pony an, ließ es in einen sanften Galopp fallen, bis der Lichtschein aus den Häusern auf seinen Rücken fiel und ihm einen langen, dunklen Schatten voraus sandte.
Zu seiner Rechten erschien das braune Wasser des Brandyweins, zuvor verdeckt von den Häusern und Gassen der Ortschaft. Im letzten Licht des schwindenden Tages wirkte das Wasser besonders dunkel und Frodo bremste sein Reittier um den Fluss genauer zu betrachten. Hier war die Strömung stärker, als weiter oben beim Brandyschloss und Frodo fragte sich, ob die Hobbits auch hier unten mit Booten hinausfuhren. Seine Frage wurde von einem Jungen beantwortet, der bestimmt gerade erst seinen Tweens entwachsen war und mit einem Boot an einem kleinen Steg anlegte, um es zu vertäuen. Frodo konnte nur den Kopf schütteln. Niemand schien den Fluss zu fürchten.

Plötzlich hörte er ein anderes Rauschen. Frodo ritt dem Geräusch entgegen und entdeckte einen weiteren kleinen Fluss, der in den Brandywein mündete. Neugierig stieg er vom Pony und trat näher an den Bach heran. Frodo schauderte plötzlich, denn erst jetzt bemerkte er, dass er das südliche Ende der Hecke erreicht hatte und der Bach, der seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte, aus dem Alten Wald floss.
"Es gibt viele Geschichten um den Alten Wald. Das Meiste ist erfunden, doch ich bin davon überzeugt, dass etwas Seltsames in seinem Innern haust. Etwas Unheimliches.
Ich war drinnen, aber nur bei Tageslicht. Nachts ist es zu gefährlich."

Saradocs Worte hallten in seinem Kopf wider und Frodo begann sich zu fragen, welche der Geschichten wohl wahr waren. Sein Blick war wie gebannt auf jene Stelle gerichtet, wo der Bach aus dem Wald trat. Noch war die Sonne nicht untergegangen. Er könnte es also wagen.
Aber Saradoc würde sich Sorgen machen, würde es bestimmt nicht gut heißen, alleine in den Wald zu gehen.

Doch noch während Frodo sich den Kopf darüber zerbrach, setzte er sich in Bewegung und folgte mit langsamen Schritten dem Lauf des Baches. Das sanfte Plätschern klang in seinen Ohren, während der Wind leise durch das Blätterdach des Waldes pfiff. Bald war er von Bäumen umringt und Frodo blickte staunend, und voller Ehrfurcht, nach oben. Wie schön sie waren. Stolz, alt und majestätisch ragten sie in den Himmel. Selbst die Luft, die er atmete, schien Alter, Geschichte in sich zu tragen. Sie erzählte das Leiden unzähliger kleiner Sträucher und junger Bäume, die niemals zu ihrer vollen Größe heranwachsen konnten, da ihnen das Licht der Sonne verwehrt worden war. Sie sprach von feuchtem Moos, das sich gierig jener armen Pflanzen angenommen hatte und sich nun von Steinen, über tote Äste und breite Stämme ausbreitete. Die Luft berichtete von vergangen Jahren, deren Zeugen vom Blitz getroffene und umgeknickte Bäume ebenso geworden waren, wie tote Blätter, auf deren trockenen Überbleibsel Frodo nun zaghaft dahin stapfte.
Erneut kam Wind auf und blies dem jungen Hobbit durch die Haare. Er fröstelte unwillkürlich. Saradoc hatte Recht, etwas Seltsames hauste hier. Ein leises Wispern, einem Stöhnen gleich zog sich über das Blätterdach durch den Wald und Frodo hatte plötzlich das Gefühl, beobachtete zu werden. Vorsichtig kletterte er über einige verschlungene Wurzeln und Äste. Er folgte nach wie vor dem Lauf des Baches, der stetig vor sich hin plätscherte, doch je weiter er ging, umso näher schienen ihm die Bäume. Es war, als würden sie sich aufeinander zu bewegen, als würden sie ihn einsperren wollen. Mit plötzlicher Sicherheit wurde ihm klar, dass er hier nicht willkommen war. Unsicher wandte er sich um, doch war er inzwischen schon so tief in den Wald geraten, dass er dessen Rand nur noch als fernen Lichtpunkt erkennen konnte.

Ich sollte umkehren. Vielleicht war es ein Fehler, hierher zu kommen.
Wieder laufe ich davon. Wann immer ich etwas fürchte, laufe ich davon. Jämmerlich? Marroc soll nicht Recht behalten. Ich bleibe hier.
Ob Papa wohl auch jemals hier war? Oder Mama? Ich habe sie nie gefragt, obwohl mich die Geschichten um diesen Wald schon mein ganzes Leben begleiten.
Ein Rascheln. Was war das?
Es ist nichts. Es gibt nichts, vor dem ich mich fürchten müsste. Außerdem ist es noch hell.
Dies ist kein gewöhnlicher Wald. Der Alte Wald, ein Ort, an dem seltsame Dinge geschehen. Was habe ich Pippin erzählt? Dunkle Schatten, die jeden in Angst und Schrecken versetzen.
Mein Herz rast. Meine Finger zittern. Ich fürchte diesen Wald und doch ist mir noch nichts passiert.
Noch nicht? Es wird nichts passieren!
Hör auf daran zu denken. Denk an nichts!
Nichts. Ein schwarzes Loch.

Auf einmal schien sich die Welt zu drehen. Frodos Lider wurden schwer und seine Augen schlossen sich, noch ehe er sich dessen bewusst geworden war. Mit tiefen Zügen atmete er die stickige Luft des Waldes ein. Er fühlte sich wie in einem Traum. Sein Kopf war leer, alle Geräusche, alle Gerüche vergessen, seine Gedanken fort. Er hatte plötzlich das Gefühl, federleicht zu sein, glaubte zu schweben.

Etwas griff nach seiner Schulter, drehte ihn um. Erschrocken riss Frodo die Augen auf, schrie. Mit einem Mal war der Traum fort und alles Gewicht stürzte wieder auf ihn ein, ließ ihn schwindeln, als sich eine kalte Hand auf seinen Mund legte.
"Sh! Nicht hier! Nicht in diesem Wald!" flüsterte Saradoc mit aufgebrachter Stimme.
Überrascht sah Frodo sich um. Wald? Sein Blick fiel auf den Bach und jetzt konnte er auch das beständige Rauschen wieder hören. Was war geschehen? Wie lange stand er da? Für einen Augenblick schien er alles vergessen zu haben. Alles war von ihm genommen worden. Er hatte an nichts gedacht und das Nichts hatte ihn zu sich geholt. Wie hatte er das gemacht?

"Wir müssen raus hier, sofort!" befahl Saradoc und schob ihn vor sich her.
Frodo blickte zum Himmel und, war es zuvor durch die Wolken dunkel gewesen, war es nun Nacht geworden und selbst wenn noch ein verirrter Sonnenstrahl am westlichen Horizont geleuchtet hätte, hätte er sie hier nicht erreichen können. Flink kletterte Frodo über die Wurzeln. Ein Ast brach. Erschrocken blickte er auf den Zeig, der unter seinem Gewicht geknickt war.
Ein wütendes Raunen ging durch den Wald. Die Blätter raschelten bedrohlich. Frodo sah sich um, hatte das Gefühl, als würde er von alle Seiten mit zornigen Augen angestarrt werden. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken, als er von Saradoc fordernd vorangetrieben wurde.
"Schnell", verlange dieser streng, beinahe furchtsam und Frodo zögerte nicht, seinem Wunsch nachzukommen.

Erleichtert atmete Frodo auf, als er den Brandywein erblickte und schließlich aus dem Wald heraus stolperte. Das ungute Gefühl beobachtet zu werden, war noch immer da, doch nicht mehr so stark. Für kurze Zeit hatte er geglaubt, der Wald hätte sich plötzlich gegen sie gestellt, denn immer wieder war er über Wurzeln gestolpert, die er davor nicht gesehen hatte. Was ihm zuvor noch als ein Ort der Geschichte, der Vergangenheit vorkommen war, hatte sich plötzlich in einen Ort der Angst und der Bosheit verwandelt, der den Zorn vieler Jahrhunderte in sich gesammelt hatte.

"Bist du verrückt geworden?" Saradoc riss ihn aus seinen Gedanken. "Ich lasse dich einen Moment aus den Augen und du rennst geradewegs in den Alten Wald! Und das bei Sonnenuntergang, bei Nacht! Hätte das Pony hier nicht gewartet, hätte ich dich vermutlich niemals gefunden", rief er wütend und doch klang Erleichterung in seiner Stimme mit.
Frodo sah ihn entschuldigend an, senkte dann den Kopf. Er hatte Saradoc auf dieser Reise keinen Ärger machen wollen und er war doch auch nur ganz kurz im Wald gewesen, hatte sich nur rasch umsehen wollen.
"Welcher Fluss ist das, Frodo?", wollte Saradoc streng wissen.
Er zuckte mit den Schultern.
"Das ist die Weidenwinde. Du hast schon von ihr gehört, nicht wahr?"
Frodo sah ihn mit großen Augen an. Natürlich hatte er das. Man sagte, dass im Tal der Weidenwinde die seltsamsten Dinge geschahen, noch unheimlicher, als alles andere, was im Alten Wald vor sich ging. Voller Staunen wanderte Frodos Blick zum Bach, der nicht weniger bedrohlich schien, als der Stockbach und doch gab es um jenen Fluss sehr viel mehr Geschichten, als über jedes andere Gewässer im ganzen Auenland.
"Komm jetzt!" sagte Saradoc und legte eine Hand um seine Schulter, um ihn so mit sich fort zu führen.
Das verwunderte Frodo noch mehr und seine Aufmerksamkeit kehrte sofort wieder zum Herrn von Bockland zurück. Keine Bestrafung? Keine lange Rede über das, was er nun schon wieder getan hatte? War Saradoc einfach nur müde, oder hatte es etwas mit dem Alten Wald zu tun? Er wollte sein Glück nicht herausfordern und ging ohne ein Wort zu sagen zu seinem Pony. Als er sich auf den Rücken des Tieres schwang, warf er noch einen letzten Blick zum Hohen Hag und dem Wald, der dahinter lag, ein Wald, der vielleicht doch mehr war, als nur Bäume und Sträucher, ehe er mit Saradoc zurück nach Hagsend ritt, um sich dort ihr Quartier für die Nacht zu suchen.



~*~*~



In der Nacht darauf, der Mond stand schon hoch am Himmel, saß Frodo an seinem Schreibtisch. Eine Kerze tauchte sein Gesicht in ein warmes Licht, als er die Feder in die Tinte tunkte und in sein Tagebuch schrieb.



Ich kann nicht erklären, was geschehen ist. Es ist einfach passiert. Ob es am Wald lag? Er ist unheimlich, der Alte Wald und seltsame Dinge gehen darin vor. Ich denke nicht, dass ich jemals wieder hineingehen werde, außer große Not zwingt mich dazu.
Ich hatte schließlich doch noch den Mut, Saradoc zu fragen, weshalb er mich nicht geschimpft hat. Er hat gelacht, doch dann wirkte er nachdenklich. Es hat lange gedauert, bis er mir schließlich erzählte, dass er selbst aus reiner Neugier hinein gegangen war, als er so alt war, wie ich jetzt. Sein Vater hatte ihn wieder herausgeholt, doch, wie auch bei mir, hatte sich der Wald plötzlich gegen sie gestellt. Sein Vater war verletzt worden und behielt sein Leben lang eine Narbe. Seither ist sein Respekt gegenüber dem Wald gewachsen und er betritt ihn nur, wenn er muss.
Seine Stimme ließ erahnen, dass er in Sorge gewesen war. Um mich? Wenn dem so war, warum hat er es dann nicht gesagt? Warum kann er das nicht sagen, wie ein Vater das tun würde?
Nein! Es fängt wieder an. Gedanken kreisen. Traurigkeit. Denk nicht daran!
Ich werde dieses Gefühl beobachtete zu werden, nie vergessen. Es war unheimlich und doch... ob das mit ein Grund war, weshalb es geklappt hat. An nichts denken. Ich habe gesehen, wie schwierig es ist, und auch, wie leicht es sein kann.
Ich weiß, dass ich es wieder versuchen werde. Wie immer, wenn meine Sorgen überhand nehmen, wenn Traurigkeit mich überfällt. Doch ob es jemals wieder funktionieren wird? Oder werden in Zukunft meine Gedanken wieder an den Ort zurückehren, vor dem ich eigentlich entfliehen wollte, so, wie es vor drei Nächten der Fall war? Ich weiß es nicht.
Es ist schwierig, Gedanken abzuschalten.



Frodo legte die Feder beiseite, räumte sein Tagebuch weg und kroch in sein Bett. Er warf noch einen letzten Blick aus dem Fenster, sah zu den Sternen.
‚Wenn du traurig bist, dann sieh zum Himmel und betrachte die Sterne.'
"Hör auf daran zu denken! Denk an nichts!" ließ er sich selbst verärgert wissen und schüttelte gequält den Kopf, bevor er sich in sein Kissen sinken ließ, die Augen schloss und sofort einschlief.





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