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Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Kapitel 28: Lass mich nicht allein



Verwundert und voller Staunen blickte Frodo auf die Seiten des Buches, das aufgeschlagen auf dem Tisch lag und dann wieder auf die Schriftrolle in seiner Hand. Voller Konzentration folgte er den dünnen eingezeichneten Linien. Erneut verglich er die Zeichnungen der Rolle mit denen im Buch. Wie sollte er Ordnung in all diese Namen bringen?
Seufzend legte er den Stammbaum der Brandybocks zur Seite. Hier gab es keine Verbindungen. Oder doch? Noch einmal studierte er die Schriftrolle, in der der Stammbaum der Beutlins aufgezeichnet war. Sein eigener Name stand an einem und Bilbos am anderen Ende. Bilbo war also gewiss nicht sein Onkel. Aber was war er dann? Angestrengt blickte er auf die vielen Namen. Bilbo war der Enkel des Bruders seines Urgroßvaters. Soweit war er bisher gekommen. Die Stammbäume waren komplizierter als er gedacht hatte. Gab es für ein Verwandtschaftsverhältnis, wie es zwischen ihm und Bilbo bestand, überhaupt einen Namen? Frodo war der Ansicht, dass das viel zu kompliziert wäre.
Belladonna Tuk; Bilbos Mutter war eine Tuk? Seine Großmutter war auch eine Tuk. Ob hier eine weitere Verbindung bestand? Schnell tauschte er die Rolle mit dem Stammbaum der Beutlins gegen die, mit dem der Tuks. Es dauerte nicht lange, da hatte er den Namen seiner Großmutter entdeckt. Belladonna war ihre Schwester gewesen. Bilbo war also sein Vetter dritten Grades.
So kompliziert die Stammbäume auch sein mochten, waren sie doch sehr interessant. Sein Blick fiel auf Merrys Namen. Merry und Pippin waren sehr nahe miteinander verwandt, doch sein Name stand ganz woanders, als der von Pip. Und wie sah es mit ihm und Merry aus? Waren sie auch nicht so nahe miteinander verwandt, wie er bisher geglaubt hatte?
Wieder griff er nach dem Buch.

Ein Feuer knisterte, verbreitete den wohlriechenden Duft von Pinienholz. Hier und da saßen einige Bewohner des Brandyschlosses unter dem Licht des Leuchters und einiger Wandlampen zusammen, unterhielten sich, rauchten Pfeife und tranken Tee.
Frodo nahm das alles kaum wahr, bis er schließlich mit einem ratlosen Seufzen den Kopf in die Hände stützte.
"Kommst du zurecht?", fragte Bilbo, der Pfeife rauchend neben ihm auf dem Sofa saß.
Frodo streckte sich müde, nickte jedoch. "Es ist nur so, dass alles viel komplizierter ist, als ich bisher gedacht habe", erklärte er und deutete auf die Stammbäume. "Merry ist mein Vetter zweiten Grades, während Saradoc eigentlich mein Vetter ist. Du hingegen bist weit davon entfernt, mein Onkel zu sein und...", er holte tief Luft und seufzte erneut, ehe er die Stammbäume kopfschüttelnd beiseite legte.
"Für mich wird sich trotzdem nichts ändern", meinte er schließlich grinsend.
Bilbo zerzauste ihm lachend das Haar, als Merimas' hellbrauner Krauskopf neben der Tischkante auftauchte. Der Kleine war zu ihnen herübergekrabbelt und stand nun auf wackeligen Beinen. Er hielt sich an Frodos Knie fest, die dunklen Augen groß und leuchtend und gab sich alle Mühe, Frodos letztes Wort zu wiederholen, hatte allerdings wenig Erfolg dabei.
"Und wir beide sind auch verwandt!" sagte Frodo, an den Kleinen gerichtet, und hob das Kind hoch.
Merimas griff neugierig nach den Schriftrollen, die neben Frodo lagen, doch dieser nahm sie ihm sofort wieder aus der Hand. Dabei bemerkte er das nasse Hemd des jungen Hobbits und als er ihn näher betrachtete, sah er, dass Speichel unaufhörlich aus dem Mund des Kleinen tropfte. Frodo runzelte die Stirn und sah sich nach einem Tuch um, konnte jedoch keines entdecken.
Merimas schien die Feuchtigkeit nichts auszumachen. Fröhlich brabbelnd griff er schließlich nach Frodos Hosenträgern, ein Ersatz für die verwehrten Schriftrollen, und zog daran. Jubelnd beobachtete er wie diese an ihren Platz zurückspickten, als er sie losließ und langte erfreut noch einmal danach, um das Vergnügen zu wiederholen.
Frodo, der die Beschäftigung des kleinen Hobbits als wenig angenehm empfand, ermahnte diesen streng, doch stieß er auf taube Ohren. Daraufhin griff er nach den Händen des kleinen Hobbits und hielt sie entschlossen fest, was Merimas gar nicht gefiel. Er protestierte lauthals, bis Frodo ihn schließlich mit einem Seufzen auf den Boden setzte.

Frodo bemerkte nicht, dass Nelke, ein Mädchen, das nur wenige Monate älter war, als er selbst, ihn von der Türe aus beobachtete. Sie hatte die braunen Locken mit einer Spange im Nacken zusammengenommen, spielte jedoch mit einer entkommenen Haarsträhne. Lächelnd kam sie schließlich auf Frodo zugerannt, als dieser Merimas zu Boden setzte.
"Kommst du mit nach draußen?", fragte sie fröhlich.
Frodo blickte überrascht auf, sah das Mädchen verwirrt an. Hatte er sich auch wirklich nicht verhört? Nelke wollte, dass er mit nach draußen kam? Er war doch sonst so gut wie nie mit ihr oder ihrem fünf Jahre älteren Bruder Reginard zusammen.
"Reginard, Marroc und einige andere sind auch da", ließ sie ihn wissen.
"Marroc?"; Frodo zog eine Augenbraue hoch. War das wirklich ihr ernst? Gab es immer noch welche, die nicht wussten, dass er auf Marroc alles andere als gut zu sprechen war?
Nelke nickte, noch immer lächelnd, sah ihn fragend an, doch Frodo schüttelte den Kopf.
"Ich bleibe hier."
Ein wenig betrübt ließ sie von ihrer Locke, die sie sich noch immer um den linken Zeigefinger zwirbelte, ab und murmelte ein leises "Schade", bevor sie nach draußen ging.

Frodo sah ihr stirnrunzelnd hinterher. Er hatte früher oft mit Nelke und den anderen gespielt. Manchmal hatte ihnen auch Reginard Gesellschaft geleistet, doch diesen hatte Frodo nie wirklich leiden können, denn er war seinem Vetter Marroc sehr ähnlich. Seit dem Dahinscheiden seiner Eltern jedoch, hatte er seine Zeit selten mit ihr verbracht, nicht zuletzt, weil sich auch viele der anderen Kinder von ihm abgewandt hatten und er meist nur noch mit Merry zusammen war. Es verwunderte ihn sehr, dass sie ausgerechnet jetzt zu ihm kam und ihn bat, ihr Gesellschaft zu leisten.
"Warum gehst du nicht mit ihr?", fragte Bilbo und musterte ihn fragend.
Die Worte rissen Frodo aus den Gedanken. "Marroc ist bei ihnen und da ich ihm nicht begegnen will, ist es besser für mich, wenn ich hier bleibe. Außerdem verbringe ich auch sonst kaum Zeit mit Nelke und den anderen. Weshalb sollte ich das heute tun?", antwortete er trocken.
Bilbo zuckte mit den Schultern. "Wenn sie sich die Mühe macht, dich zu fragen, wird es doch bestimmt einen Grund geben."

Frodo fragte sich, welcher Grund das wohl sein mochte. Er könnte jetzt hinausgehen und es herausfinden, doch so neugierig er auch war, die Tatsache, dass Marroc auch dort draußen war, ließ ihn diesen Gedanken vergessen.
Stattdessen machte er sich daran, die Schriftrollen wegzuräumen und ging schließlich auf sein Zimmer. Nachdem Pippin, Paladin und Merry gegangen waren, war Bilbo in das Gästezimmer umgezogen und so konnte Frodo wieder in sein eigenes zurückkehren.
Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann damit, in einem Buch zu blättern, das er zuvor aus der Bibliothek des Brandyschlosses hatte mitgehen lassen. Die Stammbäume hatten sein Interesse an der Vergangenheit der Hobbits geweckt und dieses Buch kam ihm wie gerufen. Es handelte von der Geschichte der Brandybocks und den ersten Jahren des Auenlandes. Frodo konnte sich kaum vorstellen, dass die Hobbits jemals woanders gelebt haben sollten. Wo genau wurde leider auch im Buch nicht erwähnt. Alles, was gesagt wurde war, dass die Hobbits zuvor fern im Osten lebten.
Frodo fragte sich, was wohl außerhalb des Auenlandes war, fern im Osten und musste dabei an Bilbo denken. Er war wohl der Einzige, der ihm diese Frage beantworten konnte.
Er wollte gerade aufspringen, um nach seinem Onkel zu suchen, als es an der Tür klopfte und eben jener zaghaft ins Zimmer spähte.
"Ich dachte mir, wenn du schon nicht zu den anderen Kindern willst, willst du vielleicht mit mir nach draußen gehen", erklärte er lächelnd. "Was hältst du von einem Spaziergang?"
Frodo nickte erfreut. Bei einem Spaziergang ließ sich noch viel besser über die Dinge außerhalb des Auenlandes unterhalten, als hier im Brandyschloss.

Sie entschieden sich dazu, auf einen nicht allzu fernen Hügel südöstlich des Brandyschlosses zu klettern. Frodo war immer der Ansicht gewesen, dass es sich bei diesem Hügel um einen Berg handelte, denn er war höher als gewöhnliche Hügel und ab und an ragten Felsen an seinen Hängen empor. Bilbo jedoch, beriet ihn eines Besseren.
Sie folgten dem schmalen Pfad, der sich seinen Weg durch die Felsen bahnte. Zu beiden Seiten ragten Bäume in die Höhe und Frodo hatte das Gefühl, als würde er sich in einem tiefen Wald befinden. Er hielt sich dicht hinter Bilbo, doch als der Weg etwas breiter wurde, eilte er voraus. Stumm und voller Erfurcht lauschte er dem Rascheln der Blätter und blickte in die glitzernden Kronen der Bäume. Bilbo beobachtete ihn lächelnd und erzählte ihm von seiner Reise und den Bergen, die er gesehen hatte, während sie stetig nach oben stiegen.
"Um vieles höher als dieser Hügel und wesentlich felsiger", hatte er gesagt.
Der alte Hobbit wusste noch vieles mehr zu berichten und Frodo wäre am liebsten sofort zu einer Reise in ferne Länder aufgebrochen. Bilbo meinte jedoch, er solle zuerst erfahren, was es im Auenland alles zu sehen gab, bevor er sich in andere Länder aufmachte.
"Bist du denn schon überall im Auenland gewesen?", wollte Frodo wissen.
Bilbo lächelte. "Ich würde nicht sagen überall, doch ich kenne manch einen verschlungenen Pfad in den vier Vierteln, der kaum benutzt wird."
"Sieht man dort auch Elben?", fragte Frodo und seine Augen leuchteten.
Bilbo wuschelte ihm durch die Haare. "Elben trifft man meist dann, wenn man es am wenigsten erwartet, Frodo."
"Auch hier oben?" Frodos Augen suchten aufgeregt die Umgebung ab, als sie schließlich aus dem waldigen Weg heraus ins Freie traten. Sie hatten den höchsten Punkt erreicht und das Gras, das ihre Füße nun umgab, reichte Frodo fast bist zu den Knien. Das Sonnenlicht, zuvor von einem dichten Blätterdach verdeckt, zeigte hier oben seine ganze Wirkung und es war angenehm warm, auch wenn es den beiden Abenteurern im ersten Augenblick beinahe zu heiß erschien.

Bilbo grinste in sich hinein, während auch er seinen Blick über die Umgebung wandern ließ. Er hielt die Wahrscheinlichkeit hier oben Elben zu sichten für sehr gering, doch wenn er das Leuchten in den Augen seines Neffen sah, wollte er ihm diese Hoffnung keinesfalls nehmen.
Er zuckte mit den Schultern: "Wer weiß?"
Frodo sah ihn staunend an. Das Funkeln in seinen Augen schien noch heller zu leuchten, als zuvor.
"Aber was könnten sie hier oben wollen?", fragte er schließlich.
"Wie wäre es mit Vier-Uhr-Tee?", fragte Bilbo zwinkernd.
Frodo grinste und griff nach seinem Rucksack. Er ließ sich neben seinem Onkel ins Gras fallen, fischte sich einen Apfel aus der Tasche und kaute nachdenklich daran, während seine Augen weiterhin über die Gräser wanderten. Ihm war warm und Schweiß klebte an seinem Nacken, doch genoss er das Sonnenlicht.
"Es gibt hier oben keine Elben, habe ich Recht?", sagte er nach einer langen Stille.
Bilbo lächelte. "Dir kann man wohl nichts vormachen."
Frodo erwiderte das Lächeln, doch dann nahm sein Gesicht einen traurigen Ausdruck an und er wandte den Blick ab, seufzte leise. "Ich werde niemals Elben sehen."
Bilbo sah ihn stirnrunzelnd an, ehe er einen Schluck aus dem Wasserschlauch nahm, um sich zu erfrischen.
"Du solltest die Hoffnung nicht so schnell aufgeben", meinte er. "Ich war fünfzig, als ich das erste Mal mit Elben zu tun hatte. Du weißt jetzt schon sehr viel mehr über das Schöne Volk, als manch ein anderer. Du musst den Dingen ihre Zeit lassen, Frodo."

Frodo blickte ihn lange an. Den Dingen ihre Zeit lassen. Zeit. Es war ihm einmal gesagt worden, dass die Zeit alle Wunden heile. Seine Wunde war nicht geheilt. Vielleicht würde sie das auch niemals tun, oder sollte er auch der Zeit mehr Zeit lassen?
Verwirrt seufzte er erneut. "Wenn sich die Dinge nur nicht so viel Zeit lassen würden."
Bilbo lächelte ihm aufmunternd zu. "Bis es soweit ist, musst du dich wohl damit zufrieden geben, mehr über Elben und ihre Sprache zu erfahren. Kannst du denn noch einige Worte, die ich dir beigebracht habe?"
Frodo lächelte erfreut. Seine grüblerischen Gedanken waren mit einem Mal vergessen und er zählte Bilbo stolz alle Wörter auf, die er sich gemerkt hatte.

So verging der Nachmittag recht schnell und während sie ihre Rucksäcke von unnötigem Ballast, wie Äpfeln, Broten und geräucherter Lammwurst befreiten, lehrte Bilbo seinen Neffen viele neue elbische Phrasen. Er war überrascht, wie gelehrig der Junge war. Frodo merkte sich die Worte schnell und auch seine Aussprache ließ kaum zu wünschen übrig.

Frodo liebte den Klang der elbischen Sprache und konnte gar nicht genug davon hören. Wie schön mussten diese Worte erst klingen, wurden sie von Elben gesprochen? Am liebsten wäre er sofort zu irgendeinem Abenteuer aufgebrochen und in Gedanken malte er sich schon eine Geschichte aus, wie er gemeinsam mit Bilbo auf die Suche nach Elben ging.
Doch noch während er seinen Gedanken nachhing, ließ Bilbo ihn wissen, dass es Zeit war, die Heimreise anzutreten und so packte Frodo, wenn auch ein wenig missmutig, seine Sachen zusammen und machte sich für einen weiteren Marsch bereit.

Die Sonne stand tief am Himmel, als sie etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. Unter dem Schatten der hohen Bäume erreichte ihr warmes Licht sie kaum noch und, war Frodo am Nachmittag noch warm gewesen, freute er sich nun auf ein wärmendes Feuer, denn einen Umhang hatte er nicht dabei, ebenso wenig einen Mantel. Gedankenverloren tappte er hinter Bilbo, der eines seiner Wanderlieder sang, her. Der Weg wand sich in Serpentinen den kleinen Berg hinunter. Frodo dachte über eine Abkürzung nach und sein Interesse wanderte immer mehr zu den Bäumen, die sie umgaben. Warum konnten sie nicht einfach den geraden Weg nach unten nehmen? Dieser war vielleicht etwas holpriger, doch sie würden wesentlich früher zu Hause im Warmen sein und zu Abend essen können.

Frodo grinste verschmitzt und eh er sich versah, war er abgebogen und rutschte den Abhang hinunter. Tannennadeln kitzelten seine Füße und immer wieder stolperte er über kleinere Steine. Oft machte er eine Pause, lehnte sich keuchend an einem der mächtigen Stämme, um nicht zu schnell zu werden. Ab und an warf er einen Blick zurück nach oben, doch verlor er den Pfad bald aus den Augen. Der Abhang war steiler, als er geglaubt hatte und er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Mehrere Male wäre er beinahe hingefallen, doch schließlich gelangte er stolpernd auf den Pfad zurück.
Etwas außer Atem, aber zufrieden, blickte Frodo nach oben. Er musste ein schönes Stück Weg zurückgelegt haben, denn der gewundene Weg hatte sich nun seinem Blickfeld entzogen und nur mehr die mächtigen, von Moos bewachsenen Stämme der Bäume lagen vor seinen Augen. Jetzt musste er nur noch auf Bilbo warten. Noch immer ein wenig außer Atem, setzte sich Frodo an den Wegrand und blickte ungeduldig in die Richtung, aus der sein Onkel kommen sollte.

Die Zeit verging und Frodo wurde etwas unbehaglich. Wo blieb Bilbo nur so lange? Inzwischen hätte er schon längst hier sein müssen. Frodo entschied, ihm entgegen zu gehen, doch je weiter er ging, umso unruhiger wurde er. Wo war Bilbo? Als er die Biegung erreichte, hatte er einen Großteil des Weges im Auge, doch von Bilbo fehlte jede Spur.
"Bilbo?", flüsterte Frodo ängstlich. Er konnte ihn doch nicht verloren haben. Er spürte die Angst, die sich langsam und bedrohlich in ihm ausbreitete. Minutenlang stand er wie erstarrt auf dem Pfad und blickte sich um. Er musste doch hier sein! Wo war er?
"Bilbo!" rief er, dieses Mal so laut er konnte.
Angestrengt lauschte er auf eine Antwort, doch keine kam. Sein Herz schlug schneller und er begann zu zittern.
"Bilbo!" rief er noch einmal, und Tränen traten in seine Augen.
Er begann zu laufen, rannte den Weg entlang nach oben, bis zu der Stelle, wo er glaubte, den Pfad verlassen zu haben. Doch noch immer konnte er Bilbo nicht entdecken.
"Ich habe ihn verloren!" murmelte er kaum hörbar. Seine Augen suchten verzweifelt die Umgebung ab, doch fanden sie nur Bäume, Sträucher, verdorrte Blätter und längst abgefallene Nadeln. Was, wenn er ihn nicht wieder fand? Eine schreckliche Angst ergriff ihn, die beinahe einer Panik gleichkam. Er musste ihn wieder finden. Er würde diesen Pfad absuchen, und wenn es Tage dauerte, bis er Bilbo gefunden hatte. Aber finden musste er ihn. Er würde es nicht ertragen, Bilbo auch noch zu verlieren. Nicht Bilbo.
"Bilbo!" Seine Stimme hallte verzagt zwischen den Bäumen wider und Tränen der Verzweiflung suchten sich ihren Weg über seine Wangen, während er immer wieder nach seinem Onkel rief.

"Frodo?"
Frodo glaubte zu träumen, als er die geliebte Stimme hörte, die seinen Namen rief. Überrascht wandte er sich um.
"Bist du das, Bilbo?", fragte er zögernd. "Wo bist du?"
Doch diese Frage erübrigte sich, da Bilbo bereits um die Biegung auf ihn zugeeilt kam. Frodo rannte ihm entgegen, Tränen der Erleichterung in den Augen. Völlig verzweifelt fiel er ihm in die Arme, vergrub das Gesicht in der Weste seines Onkels.
"Wo warst du denn?", fragte Bilbo, als er ihn hochhob und versuchte, den Jungen zu trösten, denn Frodo war völlig außer sich.
"Du warst weg. Ich dachte, ich hätte dich verloren!" schluchzte Frodo hilflos und umarmte ihn noch fester. "Ich dachte, ich nehme eine Abkürzung und warte unten auf dich!"
"Das habe ich vermutet, als ich bemerkte, dass du nicht mehr hinter mir warst. Ich ging ebenfalls vom Weg ab. Wir müssen aneinander vorbei gelaufen sein", versuchte Bilbo zu erklären, während er seinem Neffen zärtlich durch die Haare strich.
"Ich dachte, ich hätte dich verloren!" schluchzte Frodo noch einmal. "Lass mich nicht allein!"
Die Verzweiflung, die in diesen Worten lag, machte Bilbos Herz bluten. Er war erschrocken, als Frodo plötzlich weg gewesen war, doch hatte er gewusst, dass der Junge nicht weit sein konnte. Dennoch war er erleichtert, ihn jetzt wieder bei sich zu haben. Bei Frodo schien es sich jedoch um sehr viel mehr, als nur Erleichterung zu handeln. Der Junge zitterte, schien beinahe panisch.
"Das werde ich nicht", versicherte er mit sanfter Stimme, strich ihm beruhigend über den Rücken.
"Lass mich nicht allein", Frodos Stimme war kaum mehr, als ein Wispern.
Bilbo konnte die Angst, die in jenen Worten verborgen lag, deutlich spüren und er wollte sie seinem Jungen nehmen, sollte ihm stattdessen allen Trost geben, den er zu geben hatte. Vorsichtig stellte er das Kind wieder auf den Boden, löste die Umarmung jedoch erst, als Frodos Schluchzen zu einem leisen Schniefen verklang.
Er blickte tief in die blauen Augen und als er erkannte, dass alles wieder in Ordnung war, riet er dazu, nach Hause zu gehen.
Frodo nickte, rieb sich mit dem Ärmel über die Nase und trocknete seine Tränen. Er nahm Bilbo an der Hand, obwohl der Weg zu schmal war, als dass sie hätten nebeneinander gehen können, doch loslassen wollte er ihn nicht, aus Angst, er könnte ihn erneut verlieren.



~*~*~



Nach dem Abendessen saß Frodo, gemeinsam mit Bilbo und einigen anderen, in einem der vielen Wohnzimmer. Der Duft von Holz lag ihm in der Nase, als er sich im angenehmen Licht des Zimmers nahe an Bilbo hielt, der sich angeregt mit seinem Großvater unterhielt. Frodo knabberte an einem Keks, als sein Blick plötzlich auf Marroc fiel, der mit seinen Freunden an einem nahe gelegenen Tisch saß und ihn hämisch grinsend beobachtete. Eingeschüchtert wandte Frodo den Blick ab und biss in seinen Keks, als er ihn plötzlich flüstern hörte.
"Ich habe ja schon immer gesagt, dass er nicht ganz richtig im Kopf ist! Anstatt mit uns herumzuhängen, verbringt er seine Zeit mit diesem alten Tunichtgut. Der ist sogar noch verrückter, als er selbst. Und das Beste ist, er glaubt an die Geschichten, die er erzählt. Dabei hat er keine Ahnung von wirklich wichtigen Dingen. Ich glaube, wenn er nicht jemand hätte, der ihm das Essen machen würde, würde er verhungern. Frodo ist genau vom selben Schlag. Er bringt alleine nichts zustande."
Frodo bemerkte den böswilligen Blick, den Marroc ihm zuwarf. Sadoc, Ilberic und selbst Reginard lachten und sahen verstohlen zu ihm herüber. Einzig Nelke schien zu widersprechen, doch sie wurde von den älteren Jungen nicht ernst genommen und was sie sagte, konnte Frodo nicht verstehen. Er blitzte Marroc wütend an, rückte aber etwas näher an Bilbo, als wolle er sich vor den hinterhältigen Augen seines Peinigers verstecken. Warum konnte er ihn nicht einfach in Ruhe lassen?



~*~*~



Die Tage vergingen. Frodo und Bilbo unternahmen beinahe täglich eine kleine Wanderung und Bilbo erklärte Frodo alles, was er wissen wollte. Frodo genoss die ungeteilte Aufmerksamkeit. Es war ganz anders, als wenn er im Brandyschloss, gemeinsam mit den anderen Kindern, Unterricht erhielt. Außerdem schien Bilbo auf jede seiner Fragen eine Antwort zu wissen, doch als er ihm das bei einem ihrer Spaziergänge sagte, lachte Bilbo nur und meinte, er wisse zwar viele Dinge, aber längst nicht alles.
"Ich bin nur ein dummer, alter Hobbit, der seine Nase gerne in Dinge steckt, die viel zu groß für ihn sind. Außerdem hast du ja selbst gehört, dass ich von wirklich wichtigen Dingen keine Ahnung habe", meinte Bilbo lächelnd und zwinkerte ihm zu.
"Du hast ihn gehört?", rief Frodo, erstaunt und empört zugleich.
Bilbo nickte. "Und er hat damit nicht ganz Unrecht. Wenn ich mir Hamfast ansehe, oder auch den jungen Samweis, wird mir oft klar, wie wenig ich über Pflanzen und andere bodenständige Dinge weiß."
"Aber das kannst du doch lernen", meinte Frodo, doch Bilbo schüttelte den Kopf.
"Ich bin zu alt für solche Dinge, Frodo. Du allerdings, solltest sehen, dass du so viele Dinge wie möglich lernst. Du bist klug und wenn du jetzt fleißig lernst, und davon bin ich überzeugt, wird dir das später viel nutzen."

Frodo sah ihn erstaunt an. Seit dem Tod seiner Eltern hatte ihn niemand mehr als klug bezeichnet. Er war immer nur jemand in einer Gruppe aus vielen gewesen. Er wusste nicht mehr und nicht weniger als andere. Der Einzige, der ab und an ein besonderes Lob erhielt, war Merry, aber das war durchaus berechtigt. Merry war klug und das musste er auch sein, würde er schließlich eines Tages Herr von Bockland werden.
Frodo hatte sich selbst nie als klug bezeichnet, doch wenn er jetzt darüber nachdachte, stand er Merry in nichts nach, zumindest nicht in den theoretischen Dingen.
Es tat gut, derjenige zu sein, der Lob erhielt und er war Bilbo dankbar dafür.
Dennoch kränkte es ihn, zu wissen, dass sein Onkel ihn schon in wenigen Tagen verlassen würde. Alles würde wieder sein wie zuvor. Keine langen Spaziergänge, keine Geschichten über Elben, kein Lob. In gewisser Weise vermisste er Bilbo schon jetzt.
Frodo seufzte leise. Er sollte sich Merrys Rat wirklich zu Herzen nehmen, weniger nachdenken und stattdessen die Zeit genießen, die ihm noch blieb.

Doch auch die letzten Tage von Bilbos Besuch vergingen viel zu schnell und eh Frodo sich versah, stand er eines Morgens, in aller Frühe am Haupteingang des Brandyschlosses. Bilbo hatte seinen Rucksack gepackt, einen Umhang um die Schultern geschlungen und seinen Wanderstock, der während seines Besuches in einem Schirmständer geruht hatte, wieder zur Hand genommen. Der alte Hobbit hatte sich bereits bei einem zeitigen Frühstück bei seinen Gastgebern verabschiedet und so war er vor der Tür des Brandyschlosses mit Frodo alleine. Die Sonne war nur ein blasser Streifen am östlichen Horizont und ein frischer Morgenwind wehte kühl in ihre Gesichter. Tränen traten in Frodos Augen, die er tapfer zurückzuhalten versuchte, als Bilbo sich zu ihm herunterbeugte. Auch in seinen Augen lag ein feuchter Schimmer, doch lächelte er, als er ihm zärtlich über die Wange strich.
"Kopf hoch, mein Junge. Ich komme bestimmt wieder", sagte er aufmunternd. "Mach dir keine Sorgen über Dinge, die du von anderen hörst. Wichtig ist, was du denkst und nicht, was andere glauben."
Frodo wunderte sich nicht einmal mehr, über diese Worte. Er hatte inzwischen erkannt, dass Bilbo nicht nur mehr sah, als er glaubte, sondern auch mehr hörte. Frodo brachte ein gequältes Lächeln zustande. Weshalb musste er gehen? Konnte er nicht einfach hier bleiben? Wie gerne er ihn jetzt begleiten würde. Er wollte ihn nicht mehr verlieren. Nicht noch einmal. Wer wusste, wann sie das nächste Mal aufeinander trafen?
Plötzlich hallten seine eigenen Worte in seinem Kopf wider.

"Ich hatte geglaubt, wir könnten miteinander reden."
"Wir können reden, Frodo, jederzeit."

Jederzeit. Wenn er jetzt reden würde, würde Bilbo bleiben. Er wäre nicht allein. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er hatte Angst davor, allein zu sein, doch sobald Bilbo aufgebrochen war, wäre dies der Fall. Merry kam frühestens in zwei Monaten zurück. Er musste seinen Onkel davon überzeugen, wie wichtig es für ihn war, dass er hier blieb.

Lass mich nicht allein!

Das Herz klopfte ihm vor Aufregung bis zum Hals. Er würde es ihm sagen müssen. Bilbo hatte versprochen, dass er jederzeit mit ihm reden konnte. Es musste sein, sofort, oder Bilbo würde gehen und ihn alleine zurück lassen.
"Bilbo, ich muss...", brachte er hervor, doch weiter kam er nicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt, seine Zunge trocken. Er konnte nicht.
Bilbo sah ihn forschend an.
"Ich muss sichergehen, dass du keine Abkürzungen nimmst", murmelte Frodo schließlich mit gesenktem Kopf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, entspannten sich dann wieder. Er konnte nicht.
Bilbo legte ihm eine Hand unter das Kinn, forderte ihn so dazu auf, ihn anzusehen. Ein Lächeln glitt über die Lippen seines Onkels, während dieser ihn liebevoll musterte und Frodo konnte nicht anders, als dieses zu erwidern.
"Bestimmt nicht!" versicherte Bilbo und küsste ihn zum Abschied auf die Stirn.

Traurig sah Frodo ihm hinterher, als sein Onkel von dannen ging. Die ersten rotgoldenen Sonnenstrahlen verfingen sich in den grauen Locken, als die Gestalt in der Ferne verschwand und zu einem Schatten wurde. Frodo hatte ihn verloren, es war zu spät. Bilbo würde nicht noch einmal umkehren. Jetzt war er wieder alleine, aber nicht für immer. Eines Tages würde Bilbo zurückkommen, und vielleicht schaffte er es dann, zu reden, und möglicherweise würde sein Onkel dann bei ihm bleiben.





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