Stories of Arda Home Page
About Us News Resources Login Become a member Help Search

Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Kapitel 21: Angst und Aufklärung



Frodo spürte das warme Licht der Sonne auf seinem Gesicht. Verschlafen schlug er die Augen auf, sah sich verwundert um. Er war in seinem Zimmer, doch wie er hierher gekommen war, wusste er nicht. Verwirrt dachte er an die vergangene Nacht zurück, erschauderte unwillkürlich bei der Erinnerung an den Regen, die Kälte und das Gespräch mit Saradoc und doch war er erleichtert. Sein Blick fiel auf den Herrn von Bockland, der schlafend auf dem Stuhl saß. Ein Lächeln huschte über Frodos Lippen. Er musste auf dem Heimweg eingeschlafen sein und Saradoc war bei ihm geblieben.
Mit schief gelegtem Kopf beobachtete er den schlafenden Hobbit. Saradoc sah vollkommen erschöpft aus und Frodo vermutete, dass es nicht sonderlich bequem war, mit dem Kopf auf dem Schreibtisch zu schlafen. Am liebsten wäre er zu ihm gelaufen und hätte ihn in die Arme geschlossen, so groß war die Dankbarkeit, die sein Herz erfüllte. Er hatte ihm zugehört, glaubte ihm und war bei ihm geblieben, trotz allem, was geschehen war. Doch Frodo wollte Saradoc nicht aufwecken und so beließ er es dabei, seinen Blick auf ihm ruhen zu lassen.
Ein leises Grummeln erinnerte ihn daran, dass es höchste Zeit für eine Mahlzeit war. Es musste schon eine halbe Ewigkeit her sein, seit er das letzte Mal etwas zu essen gehabt hatte. Leise kroch Frodo aus seinem Bett, schlich an Saradoc vorüber und holte sich frische Kleider aus dem Schrank. Das leise Quietschen der Scharniere ließ ihn zusammenzucken und er kniff die Augen zusammen, in der Hoffnung, er würde Saradoc nicht aufwecken. Rasch befestigte er Hosenträger an einer sauberen Hose und schlüpfte in ein frisches Hemd.
Er warf noch einen letzten Blick auf seinen Onkel, bevor er auf Zehenspitzen das Zimmer verließ.

Als er den Gang betrat, seufzte er leise. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn Saradoc dabei gewesen wäre, wenn er zu den anderen ging. Er wollte ihnen nicht erklären, weshalb er am vergangenen Abend einfach so weggegangen war. Für einen Augenblick blieb er unschlüssig stehen, fragte sich, ob er nicht doch besser auf Saradoc warten sollte, doch sein Hunger gebot ihm schließlich, in die Küche zu gehen. Sein Blick fiel auf die gegenüberliegende Tür und seine Miene verfinsterte sich. Marroc hatte ausgespielt.
Frodo war noch keine zehn Schritte gegangen, da hörte er, wie eine Tür hinter ihm geöffnet wurde. Er hatte Saradoc also doch aufgeweckt. In freudiger Erwartung wandte er sich um, doch das Lächeln in seinem Gesicht, erstarb eben so schnell, wie es gekommen war.
An Stelle von Saradoc stand Marroc vor ihm, der ihn sogleich am Kragen packte und gegen die Wand drückte. Eine Kerze, die in einer Halterung an der Wand stand, flackerte gefährlich.
Frodo stockte der Atem. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und dessen nervöses Pochen klang ihm in den Ohren. Marrocs kräftige Arme hatten ihn beinahe vom Boden hochgehoben und Frodo umklammerte verzweifelt Marrocs Handgelenk, versuchend, den Griff des älteren Hobbits zu lockern.
"Was glaubst du, was du gestern getan hast, Beutlin?!" zischte Marroc wutentbrannt und seine zornigen Augen schienen Frodo förmlich aufzuspießen. "Du wirst bereuen, mich geschlagen zu haben. Ich werde dich grün und blau prügeln!"
Marroc war so nahe, dass Frodo seinen warmen Atem im Gesicht spüren konnte und er wollte sich von ihm abwenden, doch der ältere Hobbit verwehrte ihm jegliche Bewegung. Er schauderte, hielt aber Marrocs stechendem Blick stand, auch wenn ihm seine Angst zum Gegenteil riet. Dies war seine Stunde. Dieses Mal würde er gewinnen.
"Ich habe Saradoc alles erzählt", presste er schließlich hervor, obwohl Marrocs fester Griff ihm beinahe die Luft zum Sprechen raubte. Ein siegreiches Grinsen trat in sein Gesicht.
"Das ist mir gleich!" entgegnete Marroc scharf.
Er packte Frodo grob an der Schulter und stieß ihn zu Boden.

Panik stand in Frodos Augen, als Marroc ihn erneut auf die Beine zog und vor sich in sein Zimmer schob. Das Zimmer, das zuvor seinen Eltern gehört hatte. Wenn es Marroc nun schon gleich war, ob der Herr von Bockland Bescheid wusste oder nicht, was konnte ihn dann noch aufhalten?
Saradoc!
Frodo wollte nach ihm rufen, doch nur ein leises Wimmern drang aus seinem Mund.
Er zitterte am ganzen Körper und das kalte Gefühl der Angst, das sich in seinem Bauch ausbreitete, ließ ihm übel werden. Sein Blick wanderte furchtsam von einem Ort zum anderen. Überall lagen schmutzige Kleider herum, hier und da war Pfeifenkraut verschüttet worden, von dem Frodo sicher war, das Marroc es irgendwem gestohlen hatte, denn er hatte den älteren Hobbit noch nie rauchen sehen. Das Licht im Zimmer kam von mehreren Kerzenhaltern und Wandlampen, nicht etwa vom Kamin, der um diese Jahreszeit nur selten entzündet wurde. Er erkannte Sadoc und Ilberic, die sofort herbei eilten und ihn an den Armen packten, als Marroc ihn erneut grob zu Boden stieß und er schmerzhaft auf seine Knie fiel.
Das Zimmer, einst so vertraut, schien Frodo nun vollkommen fremd, hatte seine behagliche Stimmung ebenso verloren, wie die liebevolle Einrichtung. Der Geruch, den er so sehr geliebt hatte, war einem anderen gewichen. Die Luft schien nun unheilschwanger und jagte ihm Angst ein. Verzweifelt versuchte Frodo, sich aus den Griffen der älteren Hobbits zu befreien, doch so sehr er sich auch wehrte, seine Kraft reichte nicht aus. Seine Furcht ließ ihn keuchen und jagte einen unangenehmen Schauer durch seinen Körper, das einem Zittern gleichkam.
"Du glaubtest wirklich, du könntest mich schlagen und ungeschoren davon kommen?"
Marroc ging mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor ihm auf und ab, wie es Saradoc beizeiten zu tun pflegte. Seine Stimme war sachlich und doch konnte Frodo die Wut, die darin lag, deutlich erkennen.
Saradoc!
In Gedanken schrie er den Namen immer wieder, doch kein Ton drang aus seinem Mund. Seine Kehle war trocken und seine Zunge fühlte sich schwer an.
Ein harter Schlag traf Frodo im Gesicht, ließ ihn taumeln. Er wäre zurückgefallen, hätten Sadoc und Ilberic ihn nicht fest gehalten. Ein Brennen durchzuckte seine linke Wange. Tränen stiegen in ihm auf, ließen seine Augen wässrig werden.
"Saradoc."
Endlich gelang es ihm, den Namen zu formen, doch seine Stimme war nur ein hilfloses Flüstern.
"Gib es auf, Frodo! Ich gewinne!" zischte Marroc wutentbrannt und ein hämisches Grinsen erschien auf seinem Gesicht.
Frodo ließ den Kopf hängen, schloss gequält die Augen und wartete zitternd auf den nächsten Schlag. Seine Ohren klingelten und die Übelkeit, die er zuvor verspürt hatte, wurde mit einem Mal so stark, dass er glaubte, sich übergeben zu müssen.

"Bist du dir da sicher?"
Die Frage war mehr eine Drohung. Eine starke Hand packte Marroc am Arm und riss ihn von Frodo weg, gerade als er zu einem weiteren Schlag ansetzen wollte. Marroc sah entsetzt auf, während er beinahe rückwärts zu Boden stolperte. Saradocs wütende Augen funkelten ihn an.
"Was glaubst du, was du da tust, Marroc Boffin?"
Marroc entgegnete nichts, starrte weiterhin fassungslos auf den Herrn von Bockland.
"Lasst ihn gehen!" Saradoc sah wütend zu Ilberic und Sadoc, die vor Schreck wie erstarrt waren.

Frodo fiel ein Stein vom Herzen, als er Saradocs Stimme vernahm. Er spürte, wie sich noch mehr Tränen in seinen Augen sammelten. Es waren Tränen der Erleichterung, doch Frodo schluckte sie hinunter. Marroc und die anderen sollten nicht sehen, wie erleichtert er war. Die starken Griffe um seine Oberarme wurden gelöst und er hatte im ersten Augenblick Mühe, auf den Beinen zu bleiben, so weich waren seine Knie geworden.

"Sadoc, Ilberic, geht! Euch werde ich mich später widmen!"
Die Wut in seiner Stimme und sein gebieterischer Tonfall machten selbst Frodo Angst, auch wenn Saradocs Zorn nicht ihm galt. Sadoc und Ilberic zögerten nicht lange, sondern eilten sofort aus dem Zimmer, offensichtlich erleichtert, nicht sofort mit dem Herrn von Bockland sprechen zu müssen.
"Du, Marroc, setzt dich dort hinüber!"
Saradoc deutete mit einem Kopfnicken zu einem Sessel in der Ecke und als Marroc keine Andeutungen machte, seinen Worten Folge zu leisten, packte er ihn grob am Arm und stieß ihn förmlich in den Sessel. Marroc wollte protestieren, doch Saradoc ließ ihn nicht zu Wort kommen, woraufhin dieser ihn wütend anblitzte, sich jedoch schnell abwandte, als er bemerkte, dass Saradoc seinen Blick noch zorniger erwiderte.

"Ist alles in Ordnung mit dir, Frodo?"
Frodo blickte noch immer starr zu Boden. Er spürte die liebevolle Berührung seines Onkels an seiner Schulter. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Wie gerne wäre er ihm nun um den Hals gefallen, um sich bei ihm auszuweinen, genau wie in der vergangenen Nacht. Doch all das wollte er nicht, während Marroc ihn beobachtete. Er würde nicht wie ein kleines Kind um den Hals seines Onkels fallen und weinen. Nicht vor Marroc. Er begnügte sich mit einem schwachen Nicken und Saradoc klopfte ihm tröstend auf die Schulter.

Marroc war das nicht entgangen und ein schadenfrohes Grinsen trat auf sein Gesicht.
"Spar dir dein dämliches Grinsen, Marroc!" schimpfte Saradoc und wandte sich wieder dem älteren Jungen zu. "Wie konntest du nur so etwas machen? Ich hatte gehofft, nein, ich war sogar fest davon überzeugt, dass die Hobbits in Bockland, vor allem jene im Brandyschloss, in meinem Haus, in Frieden miteinander leben können. Doch ich wurde eines besseren belehrt. Du gehst grundlos mit Gewalt gegen einen viel jüngeren Hobbit vor! Was noch viel schlimmer ist, du bedrohst ihn und du belügst uns alle! Weißt du, was du ihm angetan hast? Was du mir antust?"
Saradoc hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt, ging nun vor Marroc auf und ab, wie dieser es zuvor bei Frodo getan hatte. Frodo wagte kaum, das Schauspiel zu beobachten, fühlte sich unbehaglich und fehl am Platz. Er hielt den Blick auf den Boden gerichtet, schielte nur ab und an in die Ecke, in der der Herr von Bockland den Peiniger zurechtwies.
"Ich bin enttäuscht. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich von dir enttäuscht bin. Du hast gewusst, wie leicht Frodo zu manipulieren war. Du hast genau gewusst, wo seine Schwächen liegen und du hast sie schamlos ausgenutzt. Schämst du dich denn nicht?"
Marroc warf einen wütenden Seitenblick zu Frodo, der diesen angstvoll zusammenzucken ließ, dann starrte er zu Boden. Er ballte die Hände zu Fäusten, entgegnete jedoch nichts.
"Wir werden später weiter sprechen, wenn deine Eltern auch dabei sind", sagte Saradoc schließlich mit ruhigem Ton.
Marroc sah entsetzt auf, doch Saradoc schüttelte den Kopf, sodass die Worte, die dem aufsässigen Jungen zweifelsohne auf den Lippen lagen, gar nicht erst gesprochen wurden. Der Herr packte Marroc an der Schulter und führte ihn aus dem Zimmer, schob ihn dann vor sich her. Frodo trottete ihm schweigend hinterher, den Kopf noch immer gesenkt. Er spürte die Spannung, die in der Luft lag, auch wenn er nur erahnen konnte, wie wütend Saradoc tatsächlich war.

Als sie an der Küche vorüber gingen, wurden sie von Esmeralda abgefangen, die sowohl Saradoc als auch Frodo voller Sorge in die Arme schloss. Frodo wollte sie gar nicht mehr los lassen und vergrub das Gesicht in ihren Röcken, noch immer verbissen gegen seine Tränen ankämpfend.
"Wo bist du denn nur gewesen, Junge?", fragte sie besorgt und strich ihm durch die dunklen Locken, doch ihr Blick ruhte fragend auf Saradoc.
Frodo antwortete nicht und auch der Herr wollte ihr alles erst später berichten, meinte jedoch, der Junge solle erst einmal vernünftig frühstücken, ehe er mit weiteren Fragen überschüttet wurde. Frodo sah ein wenig verlegen zu ihm auf und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als Saradoc ihm zuzwinkerte.
Marroc murrte abschätzig, doch ein kurzer Blick des Herrn genügte, um ihn wieder zum Schweigen zu bringen. Mit klopfendem Herzen sah Frodo ihnen hinterher, als Saradoc den Jungen fort führte, erleichtert, Marroc endlich los zu sein.

Esmeralda hatte einen besorgten Ausdruck im Gesicht, als sie bemerkte, wie Frodos Hände zitterten. Sie beugte sich zu ihm hinab, sah sorgenvoll in seine feuchten Augen. Die Stirn in Falten gelegt, strich sie mit dem Handrücken über Frodos linke Wange. Sie schien ihr geschwollen und als Frodo unter ihrer vorsichtigen Berührung zusammenzuckte, bestätigte sich ihre Vermutung.
"Was ist denn passiert?", fragte sie mit leiser, besorgter Stimme, doch Frodo antwortete noch immer nicht, brach stattdessen in Tränen aus. Esmeralda wusste nicht, wie ihr geschah. Sie legte ihre Arme um Frodos Schultern, hielt den Jungen fest an sich gedrückt und versuchte, ihn zu beruhigen. Es behagte ihr gar nicht, nicht zu wissen, was geschehen war, vor allem da sie in der vergangenen Nacht vergebens auf ihren Gatten gewartet hatte. Lange war sie wach gelegen, hatte auf Saradocs und Frodos Rückkehr gehofft. Nach Mitternacht waren Merimac und Marmadas heimgekehrt, doch Frodo und ihr Gatte blieben verschwunden. Besorgt hatte sie auf die beiden gewartet, bis Schlaf sich ihrer bemächtigt hatte. Als Saradoc bei ihrem Erwachen nicht neben ihr gelegen hatte, war sie sofort in Frodos Zimmer gelaufen und erleichtert gewesen, beide dort vorzufinden. Sie hatte ihren Schlaf nicht gestört, hatte sich damit begnügt, sie einige Augenblicke zu beobachten, ehe sie die Nachricht ihrer Rückkehr im Brandyschloss verbreitete.
Esmeralda war nicht dumm, hatte sich in den vergangenen Monaten oft mit Saradoc über Frodo und Marroc unterhalten und doch fühlte sie sich nun im Dunkeln stehengelassen. Seit dem Tod seiner Eltern hatte sie Frodo nicht weinen gesehen und es erfüllte sie mit Sorge, ebenso, wie es sie mit Unbehagen erfüllte, wie zornig Saradoc mit Marroc umgegangen war.

Frodo genoss den Trost, auf den er so viele Wochen vergebens gehofft hatte. Er wollte Esmeralda nicht beunruhigen, doch es gelang ihm nicht sofort, seine Tränen zurückzuhalten. In den vergangenen zwölf Stunden hatte ihn zu vieles aufgewühlt und, hatte er zuvor geglaubt, das Gespräch mit Saradoc würde am schwersten sein, so wusste er nun, dass die Begegnung mit Marroc am heutigen Morgen noch sehr viel schlimmer gewesen war. Schließlich gelang es ihm jedoch, seine Tränen zu trocknen und selbst ein zaghaftes Lächeln glückte ihm. Es widerstrebte ihm, sich aus Esmeraldas Umarmung zu lösen, doch schließlich ließ er sich zum Tisch führen.
Erneut meldete sich sein Magen zu Wort und Frodo stürzte sich hungrig auf alles, was ihm aufgetischt wurde und nur der Gedanke an Marroc dämpfte seinen Appetit. Was geschah nun? Marroc würde ausziehen müssen, dessen war sich Frodo gewiss. Doch was dann? Marroc nahm es ihm übel, dass er mit Saradoc gesprochen hatte. Außerdem konnte Saradoc nicht immer hier sein, um ihn zu schützen. Er schauderte bei dem Gedanken an das, was passieren würde, wenn er Marroc alleine begegnete.

"So etwas darfst du nie wieder machen! Mich alleine zurück lassen! Du hättest mir wenigsten Bescheid sagen können. Nein, du hättest mir Bescheid sagen müssen! Mach so etwas nie wieder! Nie wieder, hörst du?"
Frodo schreckte aus seinen Gedanken, als Merry ihm plötzlich um den Hals fiel und sich schluchzend an ihn drückte. Heiße Tränen, die in den Augen seines Vetters ihren Ursprung fanden, tropften unaufhörlich auf seinen Hals, während sich Merrys Finger in seinem Hemd vergruben, unwillig, ihn jemals wieder gehen zu lassen. Was hatte er getan? Wie selbstsüchtig war er gewesen, Merry nach den Ereignissen am vergangenen Abend einfach stehen zu lassen. Was musste sein Vetter nur von ihm denken?
Zögernd legte Frodo seine Arme um den jüngeren Hobbit.
"Nie wieder, das verspreche ich!" flüsterte er und merkte nicht, dass ihm selbst Tränen in die Augen getreten waren.
Sein Vetter sah zu ihm auf. "Ich habe Papa von den Lügen erzählt. Es tut mir Leid, dass ich mein Versprechen gebrochen habe, aber es musste sein. Ich wollte nicht, dass ..."
Frodo stoppte Merrys Redefluss, indem er einen Finger an seine Lippen legte und den Kopf schüttelte, während er Merry ein Lächeln schenkte.
"Ist schon gut", versicherte er. "Wenn du nicht geredete hättest, hätte ich es auch nicht getan. Dann würde ich jetzt vermutlich nicht hier sitzen und frühstücken", seine Miene verfinsterte er sich, ehe er leise weiter sprach. "Wahrscheinlich wäre ich in Marrocs Zimmer und würde verprügelt werden."
"Verprügelt?" Merrys Augen weiteten sich in Entsetzen.
Frodo nickte nur, ging aber nicht weiter auf dieses Thema ein.



~*~*~



Bald nach seinem späten Frühstück ging Frodo in sein Zimmer. Er wollte alleine sein, doch Merry ließ ihn keine Minute aus den Augen. Eigentlich hatte er vorgehabt, die Ereignisse der vergangenen Nacht in sein Tagebuch einzutragen und so vielleicht einen Teil von dem, was ihn nun belastete, vergessen zu können, doch das konnte er nicht, solange Merry bei ihm war. Einerseits war er froh, dass dieser ihm Gesellschaft leistete, andererseits jedoch, wäre es ihm lieber gewesen, einige Minuten für sich zu haben. Wegschicken konnte er Merry jedoch nicht, nicht nach dem, was er ihm am vergangenen Abend angetan hatte. Merry sollte nicht glauben, dass er ihn nicht bei sich haben wollte.
Außerdem hatte er erkennen müssen, dass ihm die Gegenwart seines Vetters gut tat. Merry hatte es sogar geschafft, ihn wieder zum Lachen zu bringen, etwas wonach Frodo nach der Begegnung mit Marroc gar nicht zumute gewesen war.
Doch selbst mit Merry an seiner Seite, wanderten seine Gedanken immer wieder zu dem älteren Hobbit. Marroc hatte es nichts ausgemacht, dass Saradoc Bescheid wusste. Er hatte ihn dennoch geschlagen, härter, als jemals zuvor. Was konnte ihn nun noch aufhalten? Saradoc würde Maßnahmen ergreifen, doch würden diese auch nutzen? Wozu war der Herr überhaupt in der Lage? Saradoc konnte nicht dafür sorgen, dass er Marroc nicht mehr über den Weg lief. Dazu war selbst das Brandyschloss nicht groß genug. Was würde geschehen, wenn...

"Frodo?"
Frodo zuckte zusammen und verkrampfte sich innerlich, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Erschrocken sah er auf, blickte direkt in Merrys blaue Augen, die ihn besorgt musterten.
"Ist alles in Ordnung?", fragte sein Vetter zögernd.
Frodo senkte den Blick, strich mit den Fingern über seine Bettdecke, auf der sie es sich gemütlich gemacht hatten. Goldenes Sonnenlicht strömte durch das kleine Fenster und wärmte ihre Gesichter. Frodo lehnte mit angezogenen Knien am Kopfende seines Bettes, während Merry mit verschränkten Beinen vor ihm saß und sorgenvoll zu ihm aufsah.
Frodo fröstelte, wollte die trüben Gedanken abschütteln und versuchte zu lächeln.
"Es geht mir gut, mach dir keine Sorgen", versicherte er, auch wenn seine Stimme nicht halb so fröhlich klang, wie er gehofft hatte.
Merry betrachtete ihn misstrauisch, schien von seinen Worten nicht sonderlich beruhigt und Frodo betrübte es, dass er nun auch seinem Vetter Sorgen aufbürdete, die dieser nicht hätte tragen müssen. Umso überraschter war er, als sich dessen Gesicht plötzlich aufhellte. Fragend legte er die Stirn in Falten.
"Ich weiß, was dir fehlt!" meinte Merry mit einem Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte und sprang von Frodos Bett. "Ich bin sofort zurück!"
Noch ehe Frodo etwas erwidern konnte, rannte er aus dem Zimmer und ließ seinen Vetter völlig verblüfft alleine sitzen.

Kurze Zeit später öffnete sich Frodos Zimmertür schwungvoll und Merry sprang herein, in der Hand das Buch, welches Frodo ihm an seinem Geburtstag gegeben hatte.
"Ablenkung!" verkündete der jüngere Hobbit schließlich stolz und ließ sich wieder neben Frodo nieder. Frodo starrte ihn noch immer verwundert an.
"Ich denke, ich werde dir alle drei Geschichten vorlesen. Was hältst du davon?" Merry war fest entschlossen. Das Buch hatte er schon aufgeschlagen und nun sah er erwartungsvoll zu Frodo auf.

Dieser wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Er war von diesem Vorschlag völlig überrascht, doch schmeichelten ihm Merrys Worte auch. Die Tatsache, dass sein Vetter, der fast drei Jahre jünger war als er selbst, ihm etwas vorlesen wollte, ließ ihn schmunzeln. Was würde er nur ohne ihn machen?
"Wenn du willst, kannst du das machen. Ich höre dir gerne zu", sagte Frodo, rutschte näher an Merry heran und legte einen Arm um dessen Schultern. Das Grinsen im Gesicht des jüngeren wurde daraufhin noch breiter als zuvor, wenn dies überhaupt möglich war und kurz darauf begann Merry zu lesen. Zwar waren seine Worte mehr als nur holprig und Frodo musste seinem Vetter oft zur Hand gehen, doch es genügte, um ihn seine Sorgen vergessen zu lassen.

Ein lautes Poltern ließ beide die Bilder in ihren Köpfen vergessen. Sie tauschten einen fragenden Blick, als erneut ein lautes Krachen zu vernehmen war Die beiden Hobbits sprangen vom Bett, öffneten die Tür einen Spalt weit und spähten neugierig hinaus.
Frodos Mund stand offen. Er erkannte Marrocs Vater, der emsig damit beschäftigt war, das Zimmer auszuräumen. Ilberic und Sadoc, die beide einen reuigen Blick in seine Richtung warfen, waren dem Hobbit dabei behilflich. Frodo konnten auch Marroc erkennen, der missmutig an der Wand lehnte und das Geschehen aus wachsamen Augen beobachtete.
"Mir scheint, du hast deinen Willen doch noch bekommen, Frodo", meinte dieser verärgert.
Frodo öffnete die Tür nun ganz und sah ihm in die Augen. Er versuchte ernst zu wirken, doch er wusste, dass der Schreck des Morgens und die Angst vor Marroc klar in seinem Blick zu lesen waren.
Merry starrte Marroc aus wütenden Augen an und verfolgte jede seiner Bewegungen. Er würde nicht zulassen, dass er Frodo zu nahe kam.

"Lass ihn in Frieden, Marroc! Du hast genug angerichtet. Wenn du meinst, du würdest uns dabei helfen, wenn du hier im Weg herum lungerst, solltest du wohl besser in dein Zimmer gehen. Dein altes Zimmer!"
Die Stimme von Marrocs Vater klang wütend und zugleich betrübt. Frodo wusste, dass Saradoc mit Marrocs Eltern gesprochen hatte und konnte spüren, wie sehr Rancho Boffin die Taten seines Sohnes verletzten. Einen Moment lang fragte Frodo sich, ob es richtig gewesen war, Saradoc Bescheid zu sagen, doch wies er sich gleich darauf selbst zurecht. Er hatte richtig gehandelt, denn die Erwachsenen wussten besser mit seinen Worten umzugehen, als er mit Marrocs Taten.

Marroc verdrehte die Augen, machte eine abschätzige Bewegung und ging dann von dannen. Frodo sah ihm misstrauisch hinter her, unfähig zu glauben, dass jener Junge, der zuvor keine Gelegenheit ausgelassen hatte, ihn zu quälen, nun wortlos davonging. Merry, scheinbar nicht weniger verblüfft, ergriff seine Hand und Frodo drückte sie sanft, um nicht nur seinen Vetter, sondern auch sich selbst zu beruhigen.
"Frodo?"
Überrascht sah er auf, als er seinen Namen vernahm.
"Es tut mir Leid, was mein Sohn dir angetan hat. Ich weiß, dass das seine Taten nicht ungeschehen macht, doch ich hoffe, du kannst mir verzeihen. Ich hätte ihm das niemals zugetraut."

Frodos Augen weiteten sich voller Verwunderung. Er war viel zu verblüfft, als dass er hätte antworten können. Marrocs Vater hatte sich vor ihm nieder gekniet und die Hände auf seine Schultern gelegt. Frodo überraschte das völlig und er fühlte sich unbehaglich. Schuldgefühle, ebenso wie Mitleid erfüllten sein Herz, als er in die betrübten Augen des Hobbits sah und er senkte verlegen den Blick. Damit hatte er nicht gerechnet. Marrocs Vater hatte nichts mit dem zu tun, was Marroc angerichtet hatte. Wenn sich jemand bei ihm entschuldigen musste, dann war das Marroc selbst, nicht Rancho Boffin. Er verstand die Welt nicht mehr und hoffte, dieser Augenblick möge schnell vorüber gehen, auf dass er mit Merry in sein Zimmer zurückkehren konnte.



~*~*~



Sein Blick war starr auf die Tischplatte gerichtet. Er wollte nicht aufsehen, wollte nicht einmal hier sein. Warum war es Saradoc so wichtig, dass er dabei war, wenn diese Angelegenheiten besprochen wurden? Seine Finger strichen nervös über den Stoff seiner Hose. Merry bemerkte das und ergriff eine seiner Hände, drückte sie sanft. Frodo lächelte seinen Vetter an. Immerhin durfte Merry bei ihm sein. Dennoch wäre es ihm lieber gewesen, er müsste überhaupt nicht hier sein. Saradoc, Esmeralda, Mirabella und Gorbadoc, Saradas, Merimac, Marmadas und Hanna, und noch viele mehr, alle blickten sie auf ihn und lauschten Saradocs Worten. Worte, die Frodo am Abend zuvor gesprochen hatte. Worte, von denen er froh gewesen wäre, wenn er sie nicht wieder hätte hören müssen. Er spürte erneut Tränen in sich aufsteigen, schluckte sie aber hinunter. Was mussten die anderen von ihm denken? Wegen jeder Kleinigkeit brach er in Tränen aus. Er drückte Merrys Hand fester.

"Er ist also unschuldig. Frodo hatte gar nichts damit zu tun. Marroc hatte ihn benutzt."
Es waren Saradocs Worte, die ein bestätigendes Nicken hervorriefen. Kaum hatte der Herr von Bockland zu Ende gesprochen, bemerkte er, wie verkrampft Frodo auf seinem Stuhl saß, den Kopf noch immer gesenkt.
"Ich denke, wir sollten für heute Schluss machen. Komm, Frodo, ich bringe dich zu Bett."
Mit diesen Worten erhob sich Saradoc von seinem Platz am Esszimmertisch und nahm Frodo bei der Hand, während Esmeralda und Merry den jungen Hobbit eine gute Nacht wünschten.

Frodo hatte noch immer nicht gesprochen, als Saradoc ihn zudeckte.
"Was hältst du davon, nun doch umzuziehen?"
Frodo sah ihn verwirrt an.
"Ich meine das Zimmer deiner Eltern", erklärte Saradoc mit einem Lächeln. "Vielleicht willst du immer noch dort einziehen?"
Frodo bedachte den Vorschlag einige Zeit, blickte zu seinem Bild und der tanzenden Flamme einer Kerze.
"Ich glaube, ich werde hier bleiben", sagte er dann leise. "Du hast es selbst gesagt, Saradoc. Ich war mein ganzes Leben in diesem Zimmer, weshalb sollte ich nun ausziehen wollen?"
Saradoc schien von seiner Antwort überrascht, doch er nickte und lächelte freundlich. "Dann sollst du hier bleiben."
Er strich ihm mit der Hand über die rechte Wange, denn die linke war noch immer geschwollen, wünschte ihm dann eine gute Nacht und verließ das Zimmer.

Frodo seufzte leise, als er gegangen war und blickte in die Nacht hinaus.
Es ist nicht mehr dasselbe Zimmer, das es vor einem dreiviertel Jahr gewesen ist. Zu vieles hat sich verändert. Ich vermisse sie noch immer, vielleicht sogar mehr als zuvor, doch dort werde ich sie nicht finden. Nicht mehr.





<< Back

Next >>

Leave Review
Home     Search     Chapter List