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Schicksalsjahre eines Hobbits I - Bockland  by Lily Dragonquill

Kapitel 12: Alleine auf Reisen



Eine Woche später war alles für die Abreise der beiden bereit. Bilbo schlug vor, so früh wie möglich aufbrechen. Er wollte zu Fuß nach Hause gehen und Frodo war, genau wie sein Onkel, der Ansicht, dass der Weg durch den Wald viel aufregender wäre, als der Großen Oststraße zu folgen.
Am Abend zuvor hatte Bilbo mit Frodo ihre Strecke festgelegt. Sie wollten die Fähre nehmen und dann hinauf nach Stock gehen. Anschließend planten sie nach Westen abzuzweigen, bis sie die Stockstraße erreichten, der sie etwa zur Hälfte folgen wollten. Danach wollten sie sich nach Norden durchschlagen. Dort war zwar keine festgelegte Straße, doch es gab kleine Wege, die wie gemacht waren für Wanderungen. Bilbo kannte jene Gegend gut, denn er durchwanderte sie oft und er glaubte, Frodo diese Strecke zumuten zu können.

Bilbo stand in der Küche des Brandyschlosses und ließ sich von Mirabella Proviant einpacken. Sie sparte nicht mit Essen, denn sie wollte, dass es ihrem Enkel gut erging und packte viele Extraportionen und kleinere Leckereien in Bilbos Rucksack, bis dieser randvoll gefüllt war. Bilbo war froh, dass er seine Kleider bereits darin eingepackt hatte, denn er war sicher, dass Mirabella auch den ganzen Rucksack zu füllen gewusst hätte.
"Dass du mir gut auf den Jungen aufpasst, Bilbo!" ließ sie ihn mit strengem Blick wissen, wobei sie sich die Hände an der Schürze trocknete. Das grau-weiße Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr locker über die Brust fiel.
"Das werde ich", beruhigte er sie lächelnd, doch sein Ausdruck war ernst. "Du weißt, dass mir der Junge sehr am Herzen liegt und ich es mir nicht verzeihen könnte, sollte ihm etwas geschehen."
"Ja, das weiß ich", antwortete sie nickend. "Dennoch musst du gut auf ihn Acht geben. Du hast ihn selbst erlebt, in den letzten Wochen und ich muss gestehen, ich lasse ihn nicht gerne gehen. Vielleicht ist es besser für ihn, viele Leute um sich zu haben, vor allem gleichaltrige Kinder, wie Merry."
Bilbo nickte. "Das könnte der Fall sein. Was er aber bestimmt braucht, ist etwas Abstand von den Geschehnissen der letzten Wochen, und den bekommt er, wenn er für einige Zeit mit mir kommt. Ich werde gut auf ihn Acht geben. Außerdem ist er nicht ganz alleine. Er kann seine Zeit mit Sam verbringen, oder mit anderen Kindern. Es gibt genügend davon in Hobbingen", meinte er mit einem verschmitzten Lächeln und zwinkerte Mirabella zu.
"Da hast du wohl Recht", meinte sie, wobei sie ihm ein Lächeln zuwarf, das jedoch schnell wieder aus ihrem Gesicht verschwand. Ihre Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an. "Es ist nur so, dass Frodo mein jüngster Enkelsohn ist und das Einzige, was mir noch von Primula geblieben ist."
Ihre Stimme war immer leiser geworden und bei ihren letzten Worten beinahe gebrochen. Mirabella senkte den Blick, die Hände auf dem Bauch übereinander gelegt. Einige Sekunden herrschte Stille, die keiner zu brechen wagte, dann holte sie tief Luft und reichte Bilbo den fertig gepackten Rucksack.
"Das müsste für euren Weg genügen. Seid vorsichtig!"
Dankend nahm Bilbo den Rucksack an, umarmte sie zum Abschied und flüsterte ihr tröstende und beruhigende Worte zu. Sie lächelte, als er die Küche schließlich verließ und in sein Zimmer ging, wo er sich für die Abreise bereit machen wollte.

Frodo packte gerade sein Bild in den Rucksack, als Esmeralda in sein Zimmer kam.
"Ist alles bereit?", fragte sie lächelnd.
Frodo nickte und zog die Schnüren des Rucksackes zusammen, während er noch einmal kontrollierte, dass seinem Bild wirklich nichts geschehen konnte. Es mochte nicht für Reisen gedacht sein, doch Frodo musste es bei sich haben. "Ich habe alles gepackt. Von mir aus kann es sofort losgehen."
Esmeralda holte Frodos Jacke aus dem Schrank und half ihm, sie anzuziehen. Dann nahm sie den Umhang, den sie schon am Abend zuvor über dem Stuhl bereit gelegt hatte und band ihn Frodo um. Der Junge betrachtete sie eingehend, als sie vor ihm kniete und die beiden Enden des Umhangs an seinem Hals zusammenknüpfte, doch Esmeralda wusste nicht in seinen Augen zu lesen. Als sie fertig war, klopfte sie ihm auf die Schulter und musterte ihn lächelnd. "Jetzt fehlt nur noch ein Wanderstock."
Frodo schulterte seinen Rucksack und zog eine Augenbraue hoch. "Ich glaube nicht, dass ich einen Stock brauche."
Das Licht der Kerze auf dem Nachttisch flackerte, als Esmeralda sich lachend erhob. "Das glaube ich auch nicht. Komm, Bilbo wartet bestimmt schon."
Frodo pustete die Kerze aus, ließ sich von ihr in den spärlich beleuchteten Gang führen. Der östlichste Gang war schon immer der dunkelste gewesen, doch so früh am Morgen waren nur sehr wenige der Wandleuchten entzündet. Merry kam ihnen an der Hand von Saradoc entgegen.
"Es ist schade, dass du gehst", sagte er traurig, ohne Saradocs Hand loszulassen.
Mitfühlend sah Frodo ihm in die Augen. "Ich werde bald wieder kommen."
Merry nickte, senkte aber den Kopf und schluchzte leise, unwillig, seinen Vetter weggehen zu lassen. "Es wird langweilig sein."
"Sei nicht traurig, Merry. Die Zeit wird bestimmt schnell vergehen", versuchte Frodo ihn zu trösten und nahm ihn mitfühlend in die Arme. Er war selbst ein wenig traurig, seinen Vetter zurücklassen zu müssen, doch er freute sich viel zu sehr auf den Besuch bei Bilbo, um sich darüber große Gedanken zu machen.

Als Frodo und Bilbo schließlich vor dem Eingang zum Brandyschloss standen, krähte der Hahn und begrüßte den neuen Morgen. Frodo umarmte jeden noch einmal zum Abschied, dann gingen die beiden los.
Der erste blassrote Streifen des neuen Morgens erschien am östlichen Horizont, als Bilbo und Frodo gemütlich zum Fluss liefen. Frodo sprang fröhlich neben seinem Onkel her, redete jedoch wenig und als sie schließlich den schmalen Weg zur Fähre hinunter gingen, verstummte er ganz. Bilbo schenkte dem keine weitere Beachtung, denn er glaubte, der Junge müsse aufpassen, wo er hintrat.

In Frodos Kopf spielten sich jedoch andere Dinge ab. Auf den Weg achten musste er nicht, denn er kannte jeden Stein auswendig. Mit einem Satz sprang er auf das Fährenboot, wo ein plötzlicher Schauer ihn durchlief und ihn zum Zittern brachte. Bilbo bemerkte das stirnrunzelnd.
"Ist alles in Ordnung, mein Junge?", fragte er beunruhigt.
Frodo nickte, achtete jedoch nicht weiter auf seinen Onkel, der ihn fragend beobachtete. Sein Blick war in die Ferne gerichtet.



~*~*~



"Ist alles in Ordnung?", fragte Merry besorgt.
"Er hat mich erwischt und mich verprügelt."
Frodo blieb stumm liegen, während er versucht wieder zu Atem zu kommen. Sein Herz raste.
Als sie das andere Ufer des Brandyweins erreichten, war es bereits dunkel und die ersten Sterne leuchteten am Himmel.
"Nein, Frodo! Bleib zurück! Geh mit Merry nach Hause!"
Frodo schielte nach links und nach rechts, versuchte, sich an Saradoc vorbei zu drängen, als sein Blick plötzlich auf ein dünnes, blaues Tuch fiel. Ein Tuch, wie jenes, das seine Mutter gerne trug.
"Mama!"
Sein herzzerreißender Schrei durchschnitt die Stille der Nacht, übertönte die Stimmen der Hobbits und das Plätschern des Flusses.



~*~*~



"Frodo?" Bilbo legte die Hand auf die Schulter seines Neffen.
Der Junge schreckte aus seinen Gedanken und sah mit großen Augen und offenem Mund zu ihm auf, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen.
"Was ist los?", fragte er besorgt, kniete sich vor dem Kind nieder und strich ihm durch die Haare. "Warum weinst du? Freust du dich denn nicht, dass du mit nach Hobbingen kannst? Willst du lieber hier bleiben?"
Frodo schüttelte den Kopf, wischte sich rasch mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er zu weinen begonnen hatte.
"Ich freue mich, dass ich mit dir gehen kann", bemühte er sich zu erklären. "Es ist nur...", er zögerte einen Moment lang, wobei er seinem Onkel betrübt in die Augen blickte. "Ich habe die Fähre das letzte Mal an jenem Tag benutzt, als..."
Frodo sprach nicht weiter, wandte traurig den Blick ab und schnappte leise schluchzend nach Luft. Voller Mitgefühl legte Bilbo seine Arme um den Jungen, drückte ihn fest an sich. Er wollte etwas sagen, um ihn zu trösten, zu beruhigen, fand jedoch nicht die richtigen Worte.

Als sie das andere Ufer erreichten, hatte Frodo aufgehört zu weinen. Die Sonne war inzwischen aufgegangen und ihr Licht ließ das Wasser im Fluss in allen Farben glitzern. Ein sanfter Wind wehte entlang der höher gelegenen Landstraße, als Bilbo Frodo schließlich bei der Hand nahm und mit ihm nach Norden weiterging. Immer wieder wanderte Frodos Blick jedoch nach Süden, als befürchte er, verfolgt zu werden. Bilbo beunruhigte das, doch als er den Jungen nach dem Grund fragte, schüttelte dieser nur den Kopf.
Ein leises Seufzen entwich Bilbos Lippen. Zu gerne hätte er gewusst, was in dem Jungen vorging, um ihm so dabei helfen zu können, seine Sorgen zu bewältigen. Doch wenn Frodo weiterhin nur schwieg, konnte er nichts weiter tun, als zuzusehen. Zuzusehen, wie er sich quälte und hoffen, dass er auch alleine zurechtkam. Er konnte ihn nicht dazu zwingen, mit ihm über die Geschehnisse der letzten Tage zu sprechen, das würde alles nur noch schlimmer machen. Er befürchtete Frodo könne dann sein Vertrauen in ihn verlieren und dieses Risiko wollte Bilbo keineswegs eingehen, dazu war ihm der Junge zu sehr ans Herz gewachsen.

In Stock machten sie eine Pause und nahmen im Goldenen Barsch eine Mahlzeit zu sich. Bilbo behagte es wenig, dass sie auch während dem Essen kaum miteinander sprachen, doch als sie ihre Reise fortsetzten schien Frodo wieder bester Laune und sprang fröhlich neben ihm her, sodass Bilbo seine Sorgen schnell vergaß. Hier und da rannte Frodo an den Rand des Weges, verschwand hinter Büschen oder beobachtete eine Schnecke oder anderes Getier.
Die Sonne lachte vom Himmel und die Schatten der Bäume fluteten die Straße, während der Nachmittag langsam dahin zog. Bilbo war froh, Frodo wieder leichteren Herzens zu sehen, lächelte zufrieden in sich hinein und begann schließlich, leise zu summen. Frodo hörte ihn und kam neugierig an seine Seite gerannt.
"Was summst du?", begehrte er zu wissen.
Bilbo lächelte. "Nur ein altes Wanderlied", entgegnete er in Gedanken, ehe er leise zu singen begann.


Die Straße gleitet fort und fort,
Weg von der Tür, wo sie begann,
Weit überland, von Ort zu Ort,
Ich folge ihr, so gut ich kann.
Ihr lauf ich raschen Fußes nach,
Bis sie sich groß und breit verflicht
Mit Weg und Wagnis tausendfach.
Und wohin dann? Ich weiß es nicht.



Frodo hatte schon immer Gefallen an Liedern gefunden. Er lauschte aufmerksam, versuchte, sich die Melodie einzuprägen und bat seinen Onkel schließlich, noch einmal von vorne zu beginnen. Bilbo lächelte, erfreut, dass der Junge solchen Gefallen an seinem Wanderlied fand und stimmte es gerne ein zweites und ein drittes Mal an, bis Frodo schließlich zaghaft mit einstimmte und erst leise, bald aber genauso laut wie Bilbo sang.

Als es langsam dunkel wurde, hatten die beiden schon ein großes Stück ihrer Reise zurückgelegt. Sie waren nun schon einige Stunden auf der Stockstraße entlang gegangen und der Wald um sie herum wurde immer dichter. Frodo hielt Bilbos Hand, schlurfte müde neben seinem Onkel her.
"Ich denke, wir sollten die Straße verlassen und etwas weiter dort hinten ein Plätzchen für die Nacht suchen", schlug Bilbo vor, wobei er auf ein ebenes Waldstückchen, südlich der Straße deutete.
Frodo nickte. Ihm war alles recht, so lange er sich hinsetzen und seine Füße ausruhen konnte, ein Wunsch, der ihm nur kurze Zeit später gewährt wurde. Bilbo hatte einen geeigneten Schlafplatz gefunden und breitete zwei Decken unter einer mächtigen Ahorn aus, während sich Frodo erschöpft auf eine herausragende Wurzel setzte, zu den Sternen blickte und seinem Onkel dabei zusah, wie er das Abendessen auspackte, das zu einem großen Teil aus Broten bestand, die Mirabella ihnen eingepackt hatte. Trotz seiner Müdigkeit langte Frodo kräftig zu, legte sich aber noch während er am letzten Bissen seines Brotes knabberte hin und wickelte sich in seine Decke ein. Bilbo beobachtete ihn einige Zeit, ehe er das übrig gebliebene Essen wegräumte und sich schließlich neben seinem Neffen zur Ruhe legte.
Es war eine angenehme Nacht. Kein Lüftchen wehte und die Sterne leuchteten hell am Firmament. Einige dünne Wolkenfetzen zogen am Nachthimmel dahin und Bilbo vermutete, dass dies die ersten Vorboten des Herbstes waren, der nicht mehr lange auf sich warten lassen würde, schließlich hatten sich die ersten Blätter bereits verfärbt und bald würde der Waldboden auf dem sie nun ruhten von einem dichten Blätterdach verdeckt werden.
Bilbo genoss die angenehme Stille, die sich um ihn und seinen Neffen gelegt hatte, bis dieser plötzlich leise zu sprechen begann.
"Bist du hier schon einmal Elben begegnet?"
Bilbo nickte. "Sie leben in den Emyn Beraid, den Turmbergen, und wandern oft durch diese Wälder, meist im Frühling oder Herbst", antwortete er leise.
"Glaubst du, wir werden heute Nacht welche sehen?", begehrte Frodo zu wissen und im blassen Licht der Sterne konnte Bilbo sehen, wie seine Augen ihn eingehend musterten.
"Ich weiß es nicht."
"Ich hoffe schon", seufzte Frodo und rutschte auf seiner Decke hin und her, bis er eine bequeme Stelle gefunden hatte. "Ich würde so gerne Elben sehen."
"Das wirst du bestimmt, mein Junge", versicherte Bilbo mit einem Lächeln. "Das wirst du bestimmt."

Frodo antwortete ihm mit einem Gähnen und rollte sich noch kleiner zusammen, als er es ohnehin schon getan hatte. Es dauerte nicht lange, da war er eingeschlafen und Bilbo konnte seine ruhigen, gleichmäßigen Atemgeräusche hören. Der alte Hobbit ließ sich von dem Geräusch beruhigen, doch so erschöpft er von seiner Reise auch war, fand er keinen Schlaf. Die Frage, ob es richtig gewesen war, Frodo mit sich zu nehmen, ließ ihm keine Ruhe. Der Vorfall bei der Fähre hatte ihn erschreckt. Wie gerne wollte er Frodo helfen, und dennoch konnte er es nicht. Er fühlte sich hilflos, denn in Frodos Gegenwart musste er stark sein und ihm versichern, dass alles gut werden würde, und doch hatte er jedes Mal selbst mit den Tränen zu kämpfen, wenn er Frodo weinen sah. Die Angst und die Verzweiflung, die er in den Augen seines Neffen sah, ließen ihn manchmal selbst erschaudern. Er fragte sich, ob er genügend Stärke in sich trug, um Frodo dabei zu helfen, seine Angst zu besiegen.
Was konnte er überhaupt tun, um dem Jungen zu helfen? Frodo schwieg über das, was in ihm vor ging und Bilbo war sich sicher, dass sich das auch nicht allzu schnell ändern würde. Bis es soweit war, konnte er nichts weiter tun, als für den Jungen da zu sein und ihm zeigen, dass er zuhören würde, sollte er den Wunsch verspüren, seinen Schmerz zu teilen.
Frodo rührte sich im Schlaf und seufzte leise.
Bilbo betrachtete den Jungen. Seine Züge waren feiner, als die der meisten anderen Hobbits. Hatte nicht Primula schon kurz nach seiner Geburt gesagt, er wäre den Elben aus seinen Geschichten ähnlich? Damals hatte er nur gelacht und dennoch schien es Bilbo jetzt, als wäre wirklich etwas Besonderes an ihm. Nicht wirklich etwas elbisches, aber etwas war da, auch wenn er es nicht zu beschreiben wusste.
Er seufzte. Seine Stärke musste ausreichen, um für den Jungen da zu sein, ganz gleich ob Frodo sich ihm anvertraute oder nicht. Zufrieden mit seinem Entschluss entspannte sich Bilbo schließlich, fand so die nötige Ruhe, um einzuschlafen.

Lange währte sein Schlaf jedoch nicht, denn feiner Gesang ließ ihn aus seinen Träumen erwachen. Bilbo setzte sich auf. Sein erster Blick galt Frodo, der noch immer friedlich schlummerte, die Decke bis über die Ohren gewickelt und die linke Hand entspannt neben dem Gesicht ruhend. Bilbo lauschte den leisen Stimmen, einem Gesang, so schön, wie er nur von den Erstgeborenen vorgetragen werden konnte.
Überrascht sprang er auf und sah zur nur wenige Schritte entfernten Straße. Eine kleine Gruppe von Hochelben folgte ihrem Lauf und ihre feinen Stimmen waren es, die Elbereth im Gesang preisten. Sie trugen keine Lichter bei sich und doch war es, als würden die Sterne selbst ihren Weg beleuchten. Einer der Elben entdeckte Bilbo.
"Heil, Bilbo aus dem Auenland!" rief er aus und kam ihm entgegen. "Lange ist es her, dass wir uns begegneten."
"Elen síla lúmenn' omentielvo!" rief Bilbo gerade so laut, um Frodo nicht aufzuwecken, "Ein Stern leuchtet über der Stunde unserer Begegnung, Gildor."
Die Gruppe machte Halt und beobachtete die beiden. Ihr Gesang verstummte.
"Was führt dazu, dass du zu solch später Stunde so fern von zu Hause bist?", fragte Gildor, wobei sein Blick auf Frodo fiel. "Und noch dazu, nicht allein. Wer ist dieser Junge?"
Bilbo lächelte und ließ sich neben dem Jungen auf seiner Decke nieder.
"Nun, er ist der Grund, dass ich so spät noch unterwegs bin. Das ist Frodo, mein Vetter, auch wenn er für mich mehr wie mein Neffe ist, und er wird einige Zeit bei mir in Beutelsend leben."
Gildor ließ sich neben Bilbo ins Gras sinken. Seine blasse Haut schien im Licht der Sterne noch heller zu sein. Die anderen Elben bemerkten, dass ihre Reise wohl nicht allzu bald würde weiter gehen und verschwanden zwischen den Bäumen.
Vorsichtig strich Gildor Frodo über die Wange, seine Berührung so sanft wie die einer Feder. Frodo rührte sich nicht, doch ein leises Seufzen entwich seinen Lippen.
"Ein dunkler Schatten liegt über seinem Herzen. Ein Schatten, der ein solch junges Herz noch nicht belasten sollte."
Bilbo nickte betrübt. "Deine Worte sind wahr, mein Freund. Ein trauriges Schicksal hat ihn vor kurzem ereilt."
Betroffen senkte er den Kopf, seufzte leise, ehe er Gildor von den Geschehnissen der letzten Wochen, angefangen mit dem Tod von Frodos Eltern, bis zu dem Gespräch mit Frodo am vergangenen Abend, erzählte.
"Ich sollte ihn jetzt aufwecken", sagte er mit einem Lächeln, als er auf Frodo hinabblickte. "Er hat sich so sehr gewünscht, Elben zu sehen."
Gildor lächelte. "Lass ihn schlafen. Er sieht zufrieden aus und wenn ihr den ganzen Weg vom Baranduin hierher gelaufen seid, dann muss er sehr erschöpft sein."
Bilbo nickte. "Wahrscheinlich hast du Recht."
"Doch was ist mit dir?", fragte Gildor schließlich, "Ich sehe, dass auch auf deinem Herzen ein Schatten lastet."
"Dir entgeht nichts, Gildor, mein Freund", entgegnete Bilbo lächelnd. "Es ist Frodo, um den ich mich sorge, wie du dir wohl denken kannst. Ich möchte ihm helfen und doch weiß ich nicht wie."
Gildor nickte. "Du weißt, dass ich nicht gerne Ratschläge gebe. Man weiß nie zu was sie führen können. Dennoch will ich dir sagen, dass es das Beste ist, wenn du abwartest, ganz gleich, was du zu tun gedenkst."
Bilbos Blick ruhte auf Frodo. Der Junge fröstelte. Schnell nahm er seine Decke und wickelte sie um seinen Neffen.
"Seine erste Begegnung mit Elben und er verschläft sie", sagte er mit einem gequälten Lächeln.
"Ich denke, wenn er einige Zeit mit dir verbringt, wird er bestimmt noch mehreren meines Volkes begegnen. Ich glaube nicht, dass dies meine letzte Begegnung mit ihm sein wird."
Gildor strich Frodo noch einmal über die Wangen und der fröhliche Ausdruck auf dem Gesicht des Elben veränderte sich, doch Bilbo war sich nicht sicher, was er darauf zu erkennen glaubte. Die dunklen, alterslosen Augen gaben keinen Gedanken preis. Einen Moment später war es, als hätte sich der Ausdruck nie geändert und Bilbo vermutete, dass ihm seine Müdigkeit einen Streich gespielt hatte.
Gildor erhob sich schließlich.
"Mein Volk und ich müssen weiter ziehen", sprach er und blickte zu den Sternen, ehe er sich wieder Bilbo zuwandte. "Es war schön, dich wieder zu sehen, Bilbo."
Der alte Hobbit stand ebenfalls auf. "Die Freude war ganz auf meiner Seite. Ich danke dir, dass du dir die Zeit genommen hast, mir zuzuhören."
"Pass gut auf dich und Frodo auf." Gildor reichte dem Hobbit lächelnd die Hand. "Möge Elbereth euch schützen!"
"Leb wohl, Gildor, mein Freund!" sagte Bilbo leise und verbeugte sich vor dem Elben.
Gildor eilte zur Straße zurück und auf seinen Ruf fanden sich auch die anderen Elben dort ein. Wieder schien sie ein sanfter Schimmer zu umgeben, als sie singend in die Dunkelheit davon gingen. Bilbo beobachtete sie lange und die Nacht war schon weit fortgeschritten, als er sich schließlich wieder neben Frodo zur Ruhe bettete.



~*~*~



Am nächsten Morgen wurde Bilbo von Frodo geweckt.
"Du schläfst lange", meinte der Junge mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht. Seine Haare waren zerzaust und ein heruntergefallenes Blatt hatte sich unbemerkt darin verfangen.
Bilbo streckte sich und gähnte herzhaft. "Ich war auch um einiges länger auf als du."
"Ja?", Frodo sah ihn neugierig an, während er sich eine Tasse mit Wasser füllte.
"Ja", antwortete Bilbo, zupfte ihm das Blatt aus den Haaren und packte eines der Brötchen aus. "Ich hatte eine lange Unterhaltung mit..." Er verstummte, als er sich plötzlich darüber bewusst wurde, was er gerade sagte.
"Mit wem?", fragte Frodo, seine neugierigen Augen nicht einmal von Bilbo abwendend.
"Ach, das ist nicht so wichtig", sagte der alte Hobbit schnell und wandte sich seinem Essen zu.
Frodo unterbrach sein Frühstück, ein weiteres belegtes Brot, das er sich aus Bilbos Rucksack genommen hatte, und beobachtete seinen Onkel eingehend. Der alte Hobbit verheimlichte ihm etwas und Frodo wollte unbedingt erfahren, was es war.
Zwar wich Bilbo seinem Blick aus, doch schien es ihn zu beunruhigen, dass Frodo ihn so genau beobachtete und schließlich konnte er dem fordernden Lodern in den blauen Augen nicht länger standhalten.
"Na gut, na gut! Ich habe mit Elben gesprochen", platzte es schließlich aus ihm heraus.
Frodo konnte seinen Mund nicht länger geschlossen halten und starrte ihn entgeistert an.
"Du hast was?!" rief er entsetzt, "Und du hast mich nicht geweckt?!"
"Nein", entgegnete Bilbo etwas zögernd, "Du warst sehr müde und auch Gildor war der Ansicht, dass es besser wäre, dich schlafen zu lassen."
Frodo wandte sich beleidigt ab, biss missmutig ein Stück seines Brotes ab.
"Du weißt, dass sich sie unbedingt sehen wollte", sagte er schließlich mit anklagendem Ton. "Es ist gemein von dir, dass du mich nicht aufgeweckt hast."
Bilbo seufzte. Er musste eiligst etwas finden, das Frodo davon überzeugte, dass es notwendig gewesen war, ihn schlafen zu lassen, ohne, dass der Junge weiterhin beleidigt war.
"Wenn du meinst. Dann sag mir bitte, wie wir heute weiter kommen würden, hättest du in der letzten Nacht nicht genug Schlaf bekommen, der dich einen weiteren Tagesmarsch auf den Beinen hält. Hätte ich dich tragen sollen? Es hätte nicht lange gedauert bis du mir zu schwer geworden wärest. Außerdem, was hätten wir dann mit den Rucksäcken gemacht?"
Frodo sah ihn wütend und mit funkelnden Augen an, entgegnete jedoch nichts, wandte ihm aber weiterhin trotzig den Rücken zu.
Bilbo verkniff sich ein siegreiches Lächeln und widmete sich schließlich seinem eigenen Frühstück.

Der Tag verlief ohne weitere Auseinandersetzungen. Frodo hatte bald vergessen, dass er wütend auf Bilbo war und sprang lachend und singend durch den Wald.
Es war bereits dunkel, als sie in Wasserau ankamen. Bilbo entschied, diese Nacht im Grünen Drachen zu verbringen, auch wenn es bis nach Beutelsend nur mehr ein kleines Stück gewesen wäre. Frodo war zu müde um weiterzugehen, konnte kaum die Augen offen halten und stolperte nur noch neben Bilbo her. Nicht selten wäre er hingefallen, hätte Bilbo ihn nicht an der Hand gehalten und dadurch immer rechtzeitig aufgefangen.
Selbst für ein Abendessen war Frodo zu müde und so legte er sich sofort in sein Bett, nachdem Bilbo ihm den Schmutz von Gesicht, Händen und Füßen gewaschen hatte.
"Du hattest Recht", gestand Frodo schließlich zaghaft, als Bilbo ihn zudeckte und wagte dabei kaum, seinen Onkel anzusehen.
Dieser blickte erstaunt zu ihm herab. "Womit?"
"Ich glaube, wir wären nicht weit gekommen, wenn ich nicht geschlafen hätte", wisperte der junge Hobbit und sah schuldbewusst zu Bilbo auf, auch wenn er große Mühe hatte, die Augen offen zu halten. Er rechnete bereits mit einer Rüge, doch Bilbo lächelte nur und strich ihm durch die Haare.
"Lass dir eines gesagt sein, mein Junge. Selbst wenn du vielleicht nicht verstehst, oder nicht verstehen willst, wie ich handle, so habe ich doch immer meine Gründe." Er zwinkerte dem Jungen aufmunternd zu. "Schlaf jetzt!"
Frodo kam dieser Aufforderung gerne nach und war eingeschlafen, kaum dass Bilbo sich von seiner Bettkante erhoben hatte. Er träumte nicht in dieser Nacht, hatte aber dennoch ständig das Gefühl, verfolgt zu werden.



~*~*~



Das Zimmer war nur spärlich ausgerüstet. Neben einem kleinen Bett beinhaltete es nur einen Schrank, einen Sessel und ein kleines Tischchen, das in einer Ecke stand. Bilbo saß im Sessel, eine Pfeife rauchend, als Frodo am nächsten Morgen erwachte. Auf dem Tisch in der Ecke stand ein Kerzenhalter und nur der schwache Lichtschein der von den Kerzen ausging, erfüllte das Zimmer.
"Wie spät ist es?"
Bilbo schreckte aus seinen Gedanken, als er Frodos Stimme vernahm.
"Es dürfte jetzt bald Mittag sein", meinte er.
Frodo richtete sich auf, starrte ihn ungläubig und entgeistert an. Bilbo konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. "Mein Junge, du musst ganz schön erschöpft gewesen sein."
Frodo errötete, senkte beschämt den Kopf. Er war selten so erschöpft gewesen, wie am vergangenen Abend und der Gedanke daran, wie müde er erst gewesen wäre, hätte Bilbo ihn in der Nacht zuvor aufgeweckt, ließ seine Wangen nur noch roter werden. Zugeben, dass Bilbo Recht gehabt hatte, wollte er jedoch nicht und so suchte er schnell nach etwas, um seinen Onkel vom Thema abzulenken.
"Müssten wir denn nicht schon lange wieder unterwegs sein?"
Bilbo schüttelte den Kopf. "Mach dir keine Sorgen, unser Weg ist nicht mehr weit", entgegnete er und steckte seine Pfeife weg. "Du musst Hunger haben. Lass uns in die Gaststube gehen."

Kurze Zeit später saßen die beiden Hobbits an einem der Tische in der gemütlichen Stube. Die Sonne schien durch einige Fenster und der warme Schein einiger Lampen und Laternen tauchten den Raum in ein angenehmes Licht. Neben Frodo und Bilbo, die sich eine ordentliche Mahlzeit auftischen ließen, die mehr an ein Mittagessen, als an ein Frühstück erinnerte, waren auch einige andere Bauern und Handwerker anwesend. Pfeife rauchend saßen sie an ihren Tischen unterhielten sich leise und warfen den Reisenden immer wieder neugierige Blicke zu. Anfangs kümmerte sich Frodo nicht darum, sondern war ganz mit seiner Mahlzeit beschäftigt, hatte er doch schon seit dem vergangenen Nachmittag nichts mehr gegessen. Als er dann jedoch den schlimmsten Hunger gestillt hatte, wurde er neugierig, denn immer häufiger fiel ihm auf, dass die anwesenden Hobbits die Köpfe zusammenstecken und tuschelten. Teile eines Gespräches zweier Hobbits, die zwei Tische von ihnen entfernt saßen, drangen an Frodos Ohr.

"Ertrunken sagst du?"
"Ja ja, ich habe es immer gewusst. Diese Bockländer sind komisches Volk. Hobbits sollten sich nicht für Boote interessieren. Der Herr Drogo hätte niemals eine von da drüben heiraten dürfen. Das führt zu einem schlimmen Ende, das habe ich immer gewusst."

Frodo verschluckte sich an dem Stück Brot, das er gerade kaute und schnappte verzweifelt nach Luft. Die Gespräche am Nebentisch verstummten unverzüglich. Tränen stiegen ihm in die Augen, als er endlich wieder zu Atem kam und verzweifelt zu Bilbo blickte. Warum mussten sie das tun? Wenn sie schon schlecht über seine Eltern sprechen mussten, konnte sie es dann nicht wenigstens leise machen? Warum war er hier her gekommen?
Er wünschte sich plötzlich wieder zurück in sein Zimmer im Brandyschloss. Nein, in das Zimmer seiner Eltern. Er wünschte, er könnte sich wieder unter der Decke seiner Mutter verkriechen und müsste all das nicht hören.
Bilbo hatte das Gespräch zornig mitangehört, kaum verwundert, wie wenig Rücksicht auf die Ohren genommen wurde, die der Worte lauschten. In Gasthöfen wie dem Grünen Drachen wurde mit Leidenschaft über alles mögliche und unmögliche getratscht und er schalt sich selbst, dass er nicht schon zuvor daran gedacht hatte, auf dass Frodo diese Worte erspart geblieben wären. Er legte einen Arm um den Jungen und Frodo klammerte sich verzweifelt an ihm fest, beinahe so, als wolle er sich in seiner Umarmung verstecken. Ein wütender Blick von Bilbo führte dazu, dass die beiden Hobbits endgültig den Blick abwandten und schließlich das Gasthaus verließen.
"Hör nicht auf das Gerede dieser Dummköpfe", versuchte Bilbo ihn zu beruhigen, strich ihm zärtlich durch die dunklen Locken.
Schluchzend sah Frodo zu ihm auf und murmelte: "Können wir bitte gehen?"
Der alte Hobbit nickte und so griff Frodo mit zitternden Fingern nach Bilbos Hand. Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, gingen sie auf ihr Zimmer und packten ihre Sachen zusammen.
Als sie wieder in die Gaststube traten, entschuldigte sich die Wirtin für das Benehmen der beiden Hobbits, doch Bilbo nickte ihr nur schweigend zu. Sie konnte nichts dafür und jegliche Worte wären umsonst gewesen.

Die Sonne schien warm und keine Wolken trübten den tiefblauen Himmel.
Frodo ließ nicht einmal Bilbos Hand los, als sie den restlichen Weg zum Bühl zurücklegten. Er starrte die meiste Zeit auf den Boden und ließ nur gelegentlich seinen Blick unsicher von einer Seite zur anderen wandern. Es wurde wenig gesprochen und selbst jene Hobbits, die ihnen entgegen kamen, wechselten kaum ein Wort mit ihnen, auch wenn Frodo ihre Blicke auf sich spüren konnte. Verzweifelt klammerte er sich an Bilbos Hand fest, wollte nicht, dass sie ihn ansahen und über ihn tuschelten. In den vergangenen Wochen waren ihm genügend mitleidige Blicke geschenkt worden, doch er brauchte sie nicht. Blicke konnten ihm seinen Wunsch nicht gewähren, nichts konnte das.

Erst als sie die Bühlstraße erreichten, hellte sich Frodos Miene auf.
Bilbo seufzte erleichtert. "Wir haben es fast geschafft!"
Frodo sah lächelnd zu ihm auf, doch Bilbo erkannte, dass er noch immer schwer mit den Worten zu kämpfen hatte, die im Gasthaus gefallen waren. Dennoch lächelte er aufmunternd zurück und legte den Arm um seine Schultern.
"Guten Tag, Herr Bilbo!" Bell Gamdschie kam mit einem Korb in der Hand den Beutelhaldenweg entlang und winkte ihnen zu.
"Guten Tag, Frau Gamdschie!" rief Bilbo freundlich und blieb stehen.
"Wir hatten dich bereits gestern zurückerwartet", sagte Bell, wobei sie Frodo anlächelte, der sie freundlich begrüßte, "Hamfast hat deinen Brief bereits vor wenigen Tagen erhalten und gestern Abend alles für deine Rückkehr vorbereitet."
"Frodo war zu erschöpft den ganzen Weg in nur zwei Tagen zurückzulegen", erklärte Bilbo während Frodo ungeduldig an seinem Ärmel zog und fragend zu ihm aufblickte. "Kann ich schon vorausgehen?"
Auf ein Nicken von Bilbo eilte er zur nicht weit entfernten Gartentür von Beutelsend und war kurz darauf in der Höhle verschwunden.
Bell sah ihm betrübt hinter her. "Ein guter Junge, aber er sieht mitgenommen aus. Ich glaube, es war eine gute Entscheidung, ihn einige Zeit zu dir zu nehmen."
Bilbo nickte. "Es wird ihm gut tun, etwas Abstand zu haben, zumindest hoffe ich das."



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Gedicht: Die Straße gleitet fort und fort - Der Herr der Ringe - Die Gefährten / Ein langerwartetes Fest





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